Lisa Skwirblies wirft einen kritischen Blick auf die deutschsprachige Theaterwissenschaft Lässt sich die wissenschaftliche Lehre dekolonisieren?
Die Anzahl theaterwissenschaftlicher Publikationen zur deutschen Kolonialgeschichte ist verschwindend gering, postkoloniale Theorien und dekoloniale Ansätze werden innerhalb der Disziplin weitestgehend marginalisiert bzw. als Nischen-Themen in Proseminare ausgelagert. Dabei haben vereinzelte Theaterwissenschaftler:innen bereits seit den 1980er-Jahren immer wieder für eine stärkere Etablierung post- und de-kolonialer Ansätze in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft plädiert.
Wesentliche Positionen einer postkolonialen Theaterwissenschaft finden sich bereits in Joachim Fiebachs frühen Arbeiten zum Theater in Afrika (1986) oder in Christopher Balmes Studien zum Theatersynkretismus (1995) und zum Pazifischen Theater (2007). Unter der Leitung von Erika Fischer-Lichte und Christel Weiler hat das Research Center «Interweaving Performance Cultures» einen Raum für postkoloniale und dekoloniale Diskurse mit international renommierten Wissenschaftler:innen über ein Jahrzehnt hinweg ermöglicht.
Weitere temporäre Forschungseinrichtungen wie «Das Wissen der Künste» an der Universität der Künste Berlin oder «Ästhetische Praxis» an der Universität Hildesheim widmen sich ebenfalls gezielt solchen Fragestellungen. An eine strukturelle Verankerung dieser Ansätze innerhalb der Disziplin durch Lehrstühle oder nachhaltige Forschungsschwerpunkte, wie es in den USA oder Großbritannien der Fall ist, ist aber noch stets nicht zu denken. Diese fehlende strukturelle Auseinandersetzung steht diametral einem wachsenden Interesse unter den Studierenden gegenüber. So kann aus eigener Erfahrung in der Lehre berichtet werden, dass Studierende ein besonderes Interesse an Critical Race Theory, Kritischer Weißseinsforschung, postkolonialer Theorie sowie dekolonialen Praktiken haben und sich auch über ihr Studium hinaus damit beschäftigen. Das große Interesse der kommenden Generation stößt im deutschsprachigen Raum auf ein Wissenschaftssystem, das sich weder mit den Theorien zu (Post)Kolonialismus noch mit der Kolonialität der eigenen Wissensgenerierung und -produktion auseinandersetzen will. Dabei wäre dies dringend notwendig.
Der Sammelband Theaterwissenschaft postkolonial/dekolonial, den ich mit meiner Kollegin Prof. Azadeh Sharifi konzipiert habe und der im Herbst diesen Jahres beim transcript Verlag erscheinen wird, legt den Finger in diese postkoloniale Wunde der deutschsprachigen Theaterwissenschaft und fragt, wie sie denn aussehen könnte, die postkoloniale oder dekoloniale Theaterwissenschaft. Was für institutionelle und methodologische Veränderungen bräuchte es, um intersektionale Analysen von race, class, gender, disability etc. strukturell in den Lehrplänen und Forschungsanträgen zu verankern? Welche Ansätze gibt es in unserer Disziplin möglicherweise schon, die aber von anderen wissenschaftlichen Diskursen überschrieben werden? Was bedeutet die Forderung nach Dekolonisierung der Universität im Globalen Norden?
Inspiriert haben uns in der Konzipierung dieses Sammelbands neben unsern eigenen Studierenden auch die internationalen Bewegungen von Studierenden und Dozierenden in Südafrika, Indien, England, Australien, Kanada und den USA, die in den letzten Jahren verstärkt die Dekolonisierung ihrer Universitäten eingefordert haben. Durch die Sozialen Medien und Hashtags wie #RhodesMustFall oder #LiberateMyDegree konnten sich die Aktivist:innen miteinander vernetzen und sich gegenseitig dazu ermächtigen, die Kolonialität ihrer Universitäten zu hinterfragen. Dies ist besonders wichtig, da die Universität im Globalen Norden eine der Schlüsselinstitutionen für die Produktion kolonialen Wissens im 18. und 19. Jahrhundert ist. So wurden an der Universität kolonialintellektuelle «Rassentheorien» entwickelt, Kolonialdiskurse popularisiert und eine intellektuelle Grundlage geschaffen, woraus die Enteignung, Unterdrückung und Vorherrschaft in den Kolonien sich herausbilden konnten. Als Herausgeberinnen mit einer Anstellung an Universitäten im Globalen Norden erkennen wir an, dass die dekoloniale Option aus den Erfahrungen, Widerstandsbewegungen und Wissensproduktionen von Schwarzen, indigenen und anderen marginalisierten Gruppen hervorgegangen ist und nur durch deren Kämpfe den Weg in die Universitäten gefunden hat. Auch in Deutschland sind vereinzelte Initiativen von Studierenden in dieser Zeit entstanden, wie die Gruppe Intersectionality.Diversity.Antidiscrimination an der UdK Berlin.
Dass diese Initiativen aber kaum Widerhall in den Strukturen der universitären Departments oder in der Forschungslandschaft und den Lehrplänen finden, ist einer der Ausgangspunkte dieses Sammelbandes. Wir behaupten demnach nicht, neue Diskurse und Theorien für eine alte Disziplin zu entwickeln oder ein vollkommen neues Themenfeld aufzumachen. Im Gegenteil, wir sind uns der Schultern, auf denen wir stehen, sehr bewusst und hoffen, mit diesem Band und hoffentlich weiteren nachfolgenden Publikationen, die bereits bestehenden Diskurse und Forschungsansätze zu bündeln, ihnen Sichtbarkeit zu verschaffen und vor allem Wissenschaft, Kunst und Aktivismus in einen produktiven Dialog zu bringen.
«Dekolonisierung» bleibt dabei ein umstrittener Begriff mit einer Vielzahl an Definitionen, Interpretationen, heterogenen Zielen und Ansätzen, politischen Projekten und normativen Anliegen. Die Soziolog:innen Gurminda Bambra, Dalia Gebrial und Kerem Nisancioglu (2018) definieren zwei hilfreiche Schlüsselreferenzen für den Begriff: erstens, eine Art und Weise über die Welt nachzudenken, die Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus als empirischen und diskursiven Untersuchungsgegenstand ernst nimmt; zweitens, eine alternative Art und Weise über die Welt nachzudenken, die zu neuen Formen politischer Praxis führen kann (Bhambra et.al. 2018). Einer der vielleicht wichtigsten und für eurozentrische Formen der Wissensgenerierung herausforderndsten Elemente von dekolonialen Ansätzen ist dabei die Forderung nach Positionierung und Pluralität. Für eine dekoloniale Theaterwissenschaft würde das bedeuten, eine Pluralität von Perspektiven, Weltbildern, Ontologien, Epistemologien und Methodologien ernst zu nehmen.
Lisa Skwirblies wurde 1985 geboren und war Postdoc am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie forscht zur Verbindung von deutscher Kolonial- und Theatergeschichte und zu dekolonialen Methodologien für die Theaterhistoriographie. Ihren PhD erhielt sie 2018 von der University of Warwick und erhielt von 2018 bis 2020 ein Marie Curie International Fellowship im Rahmen des EU Horizon 2020 Programmes. Seit 2022 ist Lisa Skwirblies Gastprofessorin der Theaterwissenschaft an der Universität von Amsterdam.
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