Mathieu Bertholet Übersetzen als Flucht

Dass Übersetzung in unserer sich ständig verändernden und im Zusammenbruch befindlichen Welt etwas dringend Notwendiges ist, scheint sich von selbst zu verstehen. Dass der Theaterintendant, der ich bin, Übersetzer als Schleuser und Aufklärerinnen[1] benötigt, versuche ich hier eindeutig zu zeigen. Dass der Autor, der ich gewesen bin (und vermutlich irgendwann wieder sein werde) die Erfahrung der Übersetzung benötigte, um sich weiterzuentwickeln und an andere Orte zu gelangen, auch das werde ich versuchen, verständlich zu schildern. Ich werde diese Spalten nutzen, um zu versuchen, zu erklären, woher ich komme, warum die Übersetzung ein Durchbruch in eine andere Welt ist, eine notwendige Flucht heraus aus unseren allzu wohlgeordneten Bibliotheken.

Der übersetzende Amateur

Bei ersten Mal kommt man nicht von selbst dazu… Man würde es sich nicht trauen. Man muss dazu gedrängt, gezwungen, beinahe genötigt werden. « Weil du ja Deutsch kannst », stellt man dir eine erste Frage, in Bezug auf einen Text, eine Übersetzung, irgendetwas, das nicht richtig funktioniert, das nicht klingt, das sich nicht sagen lässt, das man nicht mehr sagt … Und dann kommt die zweite Frage und alle folgenden… Und plötzlich bist du mittendrin und spürst, dass der Text es verdient, sich mit ihm zu beschäftigen, ihn anders anzugehen, oder mit einer anderen Stimme, einer heutigen Stimme, ihn neu zu bearbeiten, sich in ihn zu versenken… Und unversehens hat man seinen ersten Text übersetzt, einen zeitgenössischen Klassiker[2]. Und es hat einem gefallen. Man fand es toll, man hat Blut geleckt, es hat einen gepackt. Und man hat gelernt. So vieles gelernt. Jedoch hat man dabei nicht die Gesetze, die Regeln, das Vokabular eines echten Übersetzers gelernt, denn schließlich ist man nur ein Lehrling. Nur jemand, der zwischen zwei Sprachen, zwei Ufern hin und her rudert. Man ist bloß ein Amateur. Ein bisschen scharfsichtiger als Google Translate. Ein bisschen sensibler. Ich werde es also nicht wagen, hier als gelehrter Übersetzungs-Experte aufzutreten. Dafür fehlt es mir an Ausbildung, an Vokabular, an Wissen. Ich äußere mich nur als Praktiker. Nicht als Akademiker. Nur als ein Dilettant. Als jemand, der Texte und Autorinnen liebt. Wirklich liebt. Zu sehr liebt. Der Flucht und Ortsveränderungen liebt. Fluchtbewegungen. Woandershin.

Als Autor übersetzen

Ich bin kein Übersetzer, ich bin Autor. Ein Autor, der nach einer Stimme sucht. Sich eine Stimme sucht. Und der sie (häufig) in anderen Stimmen findet. Indem er andere Stimmen erforscht, sucht und heimsucht. Indem er sie sich aneignet. Man kann einen Roman in Theater übersetzen. Man kann einen deutschen Roman auf eine Westschweizer Bühne bringen[3]. Eine doppelte Verschiebung, sprachlich und formal. Man kann Architekturprinzipien in Theaterprinzipien übersetzen[4] : den Raum, das Licht[5], die Materialität der tragenden Elemente, in Aufführungsdauer, in Präsenzen, in Körper auf der Bühne. Eine echte historische Figur, eine Heldin der Wirklichkeit, kann in Theaterfiguren übersetzt werden[6], in Metaphern, in Fahnenträger, in ein rhapsodisches Drama. Von einem Rahmen zum anderen, von einer Wirklichkeit zu anderen. Auf die Bühne bringen, hinüberbringen, so wie ich vom Französischen zum Deutschen hinübergegangen bin. Sich fortbewegen, sich Fragen stellen, Fragen teilen. Autorinnen so sehr lieben, dass man sie bekannt machen, besser kennenlernen, lernen, verstehen will. Ich kenne (noch) keine bessere Möglichkeit, um eine Autorin kennenzulernen, als sie zu übersetzen. Dieses Bedürfnis danach, (einen Roman, eine Figur, eine Architektur, einen Text) wirklich zu kennen, treibt mich dazu, mich voll und ganz hineinzuversenken, um sie woandershin zu bringen. Sie zu übertragen. Zu übersetzen. Von einer Wirklichkeit in eine andere. Von einer Sprache in eine andere.

Mit Sprache spielen

Und jetzt, wo man schon einmal mittendrin war, eine erste Übersetzung gemacht hat, traut man sich alles! Ohne sich dessen bewusst zu sein, weil man keine Angst hat, weil man nicht weiß, dass man Angst haben sollte, dass es Regeln gibt, dass man bescheiden sein sollte, weil man zu sehr liebt, weil man naiv ist, macht man sich an die Achttausender. Es werden einem sogar die höchsten Gipfel anvertraut. Andere sind so nett, einem zu vertrauen. Vielleicht weil man als Autor auch eine Sprache erfinden kann? Schließlich weiß ja jeder, dass ich nicht übersetze. Ich bin dabei nicht professionell. Ich versuche, hineinzuschlüpfen, mich in den Text zu kleiden und ihn in meine Sprache zu holen. Ich liebe Goetz und Jelinek, also muss man sie hinüber ins Französische bringen! Schmalz, Kricheldorf! Brunner! Und fröhlich verschwendet man irrsinnig viel Zeit damit, auch ihren Witz zu übertragen. Wer hätte gedacht, dass das Deutsche witzig sein kann? Dass Jelinek nicht bloß ernsthaft ist? Ganz im Gegenteil! Mit Vorurteilen aufräumen, es akzeptieren, Fehler im Französischen zu machen, um dem Original ähnlich zu sein[7]. Liebe Leserinnen, ihr seid alle Experten, ich werde euch nicht dadurch beleidigen, dass ich euch erkläre, wie schwierig es ist, Autorinnen, die mit Sprache spielen, von einer Sprache in die andere zu transportieren. Autorin zu sein bedeutet, das Recht zu haben, Sprache zu erfinden, zu stören, durchzuschütteln. Übersetzen bedeutet, sich mit diesen Störungen zu amüsieren. Vielleicht ist es als Autor leichter, an diesen Spielen und Störungen teilzunehmen, seine eigenen Spiele zu erfinden, weil ein Autor sich dieses Recht herausnehmen darf. Vielleicht ist ein Autor weniger zur Treue verpflichtet? Man gesteht ihm das Recht zu, ein bisschen zu verraten. Solange er dabei demütig bleibt, demütig gegenüber der Sprache der Autorin, in die er eintaucht, in die er sich kleidet. Auf diesem schmalen Grat zwischen Erfindung und Deutung zu balancieren. Die Sprache des anderen hörbar zu machen, ohne sich über seine eigene Sprache lustig zu machen.

Anderswo schreiben

Alle Übersetzerinnen sind Autorinnen, Autorinnen, die in die Kleider anderer Autorinnen geschlüpft sind.
Ein Autor, der sich damit amüsiert, Übersetzerin zu sein, entzieht sich den Netzwerken, den Formen, den Strukturen, den Vorrichtungen, die das Theater mit einer Einheitssprache ersticken, einer Theatersprache, der Geisteswelt einer Sprache, seiner eigenen Sprache. Er macht sich auf die Reise, macht sich Umstände, wächst über sich selbst hinaus. Er entzieht sich seinem eigenen Schreiben, er öffnet Fenster für andere Möglichkeiten zu schreiben und hat keine Angst davor, dabei über Bord zu gehen. In andere Köpfe fliehen, sich mit fremden Federn schmücken, heimsuchen, sich versenken, sich durch das Dickicht kämpfen, sich in den Urwald einer anderen Sprache stürzen, der Sprache eines anderen, auf der der Suche nach der Lichtung. Anderswo schreiben, in einer anderen Sprache.

Kreatives Hobby

Denn Übersetzen ist ein Spiel, ein Suduko der Worte, eine knifflige Denkaufgabe, eine Flucht aus dem erdrückenden Alltag eines Theaterintendanten… Der Autor, der Intendant geworden ist[8], hat keine Zeit mehr, zu schreiben. Zum Schreiben muss man Zeit für sich haben, vor sich haben, einen Horizont vor sich haben. Der Intendant ist niemals länger alleine mit dem Blick auf den Horizont, als seine Mailbox zur Abfrage neuer Nachrichten braucht. Kein Raum, keine Konzentration. Übersetzen ist seine geistige Flucht, sein kurzer Strandausflug, seine Frischluftzufuhr. Man kann hinein- und hinausgehen, sich in den Text eines anderen vertiefen, eine Seite lang, eine Stunde lang, eine Szene lang, und dann zu seinem Intendantenalltag zurückkehren. Man läuft in den Fußstapfen eines anderen, hundert Meter lang, einen Kilometer lang, eine Wanderung lang; nicht nötig, die Spur zu vertiefen, die Karte zu zeichnen, sich große Projekte zu überlegen. Das ist mein Vergnügen als Intendant, mein kreatives Hobby: zu übersetzen. Mein dringendes Bedürfnis ist es, anderen die Entdeckung von Autorinnen und Texten zu ermöglichen. Ich bin Intendant. Und ich brauche Übersetzungen!

Ökologische Reisen

Textbasiertes Theater ist nicht besonders in Mode. Und doch sollte es gerade heute wieder seinen Platz in der ersten Reihe einnehmen. Weil der Text der kleinste Reisende ist, er ist der Botschafter, der inbrünstige, naive Soldat der Ökologie, der Entschleunigung. Er reist ohne Gewicht und ohne CO2-Ausstoß, macht bekannt, stört und verschiebt und erzählt uns durch all seine Bewegungen eine Menge. Er zwingt uns dazu, uns in Bewegung zu setzen, uns Fragen zu stellen, uns zu versenken. Ist es nicht weitaus besser, einen Text auf die Reise zu schicken als eine Aufführung? Wie lernt man am meisten über den Anderen, die anderen ? Wie vergrößert man die Anzahl derer, die eine Erfahrung teilen? Wenn die Aufführung reist, sehe ich einen Fremden an[9]. Er ist fremd, außerhalb von mir, außerhalb von uns. Ich beobachte ihn, bin erstaunt[10]. Wenn der Text reist, verlässt er seine Sprache und gesellt sich zu meiner, bewegt sich fort und behält dabei doch die Spuren seiner Herkunft, den Klang seiner Stimme, das Geräusch und den Geruch seiner Erde. Hier angekommen[11], wird er ergriffen, in die Hand genommen, mit Bekanntem, Nahem aufgeladen: von Schauspielerinnen und Regisseurinnen von hier. Er hat sich in meine Sprache gekleidet, den Weg über eine Übersetzerin genommen. Der Text tritt in meine Wirklichkeit ein und stört sie. Er ist nicht mehr der edle Wilde, den ich im Zoo hinter der Glasscheibe der weit entfernten Fremdheit betrachte. Er ist in meine Sprache eingetreten, setzt meine Bibliothek in Brand (wenn es einer von diesen Texten ist), fährt in den Mund dieser mir bekannten Schauspielerin, bringt jene Regisseurin vollkommen aus dem Konzept. Er versetzt in Aufruhr, setzt in Bewegung. Er lässt mich und lässt uns – mich, Zuschauerin, Übersetzerin, Schauspielerin, Regisseurin – verstört, verschoben, aufgewühlt, empört, vor meinem hübschen Bücherschrank voller wohl gesprochener, wohlgesetzter Sprache[12] zurück. Vollkommen aufgewühlt. Angesichts meiner wohlgeordneten Welt. Der Text hebt meine Wirklichkeit aus den Angeln.

Helden des Dialogs

Zu denken, dass die Literatur eine große, kollektive Plauderei sein kann, wo sich die Stimmen in einem großen Babylon vermischen, und wo die Rache eines toten Gottes keinerlei Macht über unseren Turm hätte, – daran zu glauben dass es dank der hartnäckigen Sysiphosarbeit aller Übersetzerinnen der Welt noch möglich sein könnte, zu lernen, sich in Bewegung zu setzen, verstört zu werden, nicht einverstanden zu sein und die Dinge anderswo zu sehen, – diese kleinen Reisenden mit einer Menge Koffern aber ohne Gewicht, die die Texte sind, zwischen Sprachen und Welten auf Reisen zu schicken, – dies alles ist eine extrem zeitgenössische Aufgabe. Übersetzerinnen sind Heldinnen des Dialogs, ich hoffe, dass dies durch diese Zeilen verständlich wird. Ich glaube, dass Übersetzung den Zusammenbruch verhindert, dass sie Befreiung und Bewegung bedeutet. Und dass sie sich jedem Zugriff entzieht.

[1] Ich mag keine geschlechtsneutralen Bezeichnungen, aber ich glaube an Gleichheit, also erlaubt es mir, zu jonglieren und von der einen zum anderen zu gleiten, und fühlt euch einbezogen als das, was ihr seid oder als was ihr euch fühlt, egal welche Form ich gebrauche.
[2] Die bitteren Tränen der Petra von Kant, neu übersetzt für Anne Bisang, Comédie de Genève, 2002, L’Arche Editeur.
[3] MEPHISTO von Klaus Mann wurde zu RIEN QU’UN ACTEUR für die Comédie de Genève, Regie : Anne Bisang, Editions Actes Sud Papiers.
[4] CASE STUDY HOUSES #16 von Craig Ellwood, Los Angeles, 1953, wurde zu SAND, inszeniert von Marc Liebens.
[5] « Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper, sagte Le Corbuiser.
[6] Clara Immerwahr-Haber in FARBEN (Editions Actes Sud Papiers) oder Rosa Luxembourg in L’AVENIR, SEULEMENT, T2G, Inszenierung des Autors, 2011.
[7] Die Schwierigkeit eine Sprache zu übersetzen, die mit der Sprache spielt, mit ihrer Grammatik, ihrem Vokabular. Eine Autorin, die erfindet. Gegen jenen stets latent vorhandenen Verdacht, dass der Übersetzer das Falsche versteht, das Falsche tut, das Falsche schreibt. Und dieser Mut, der als Übersetzer notwendig ist, um sich zu verteidigen und zu seinen Fehlern zu stehen.
[8] Gar nicht widerwillig sondern mit großer Freude leite ich POCHE /GVE seit der Spielzeit 2o15/2o16, um es zu einem ein Text- und Autorinnentheater zu machen.
[9] Und erspare mir keineswegs die Notwendigkeit der Übersetzung (und ihre Kosten…).
[10] « Die Exotik ist der Tod des Fremden. » Der Fernfahrer in DOSENFLEISCH von Ferdinand Schmalz, Fischer Theaterverlag.
[11] Wo und wer man ist, liegt außerhalb der Ursprungssprache.
[12] Ich spreche nur von Sprache, weil das meine Obsession ist. Aber natürlich verleiht mir dieser befremdliche, fremde Text einen Blick, einen Eindruck von dem, was in diesem Anderswo geschieht, was dort die Köpfe und die U-Bahn-Gänge (wenn es welche gibt) beschäftigt, der Text als Dokument – nicht als ein Dokument, das man in ein Museum oder auf eine Theaterbühne stellt, die womöglich vergessen hat, dass das Theater niemals die Wirklichkeit ist, sondern ihr verschobenes, neugedachtes, widergekäutes Abbild – , als Zeuge ; nicht die Welt, wie sie ist, sondern so, wie eine fremde Autorin sie erfasst hat.

(Der Text erschien ursprünglich auf Französisch in: théâtre public, N°235, janvier-mars 2020 – Übersetzt und leicht redaktionell bearbeitet von Frank Weigand)

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