Mira Lina Simon Welche Geschichten erzählt uns eine Datenbank? – Phänomene des Theaterübersetzens

Als junge Literaturübersetzerin, mit dem Wunsch nach mehr Praxis, sagte ich fröhlich zu, als mich Frank Weigand fragte, ob ich nicht (auch) Lust hätte, eine Datenbank mitaufzubauen, die (immerhin) Daten zu Theatertexten sammele. Nicht gerade sexy dachte ich, aber eine tolle Möglichkeit, mir einen Überblick über die Theaterübersetzungslandschaft zu verschaffen, Theaterverlage auszukundschaften, Synopsen zu studieren, Übersetzer:innen kennenzulernen und tiefer in die Szene einzutauchen, vielleicht sogar ihre Funktionsweise zu verstehen.

Fünf Monate lang habe ich also – zusammen mit meinen wunderbaren Kolleginnen Ela zum Winkel und Franziska Baur, in unermüdlicher Euphorie Theaterakteure angeschrieben, in der Hoffnung, eine möglichst vollständig ausgefüllte excel-Tabelle zurückgeschickt zu bekommen, und mit der bitteren Vorahnung, dass das wohl Wunschdenken ist. Der Arbeitsaufwand, der sich hinter dieser excel-Tabelle verbarg, war teilweise nicht zu unterschätzen…

Doch peu à peu wuchs unsere «Plateforme» und mit der Fülle der Datensätze wuchs auch die Neugier auf die potenziellen Geschichten, die diese Daten zu erzählen vermögen. Würde mir «Plateforme» wohl zuflüstern, wie man an Theaterübersetzungen herankam? Wie Aufträge vergeben werden? Denn die vorher schon öfters gehörten Antworten, einen eindeutigen Weg gäbe es nicht, das sei eher «Zufall», konnten mich nur schwer zufrieden stellen. Aber ich nehme es gleich vorweg, eine großartig andere Antwort habe ich tatsächlich nicht gefunden.

Doch nun zu den Zahlen. Bis dato haben wir insgesamt 649 Theaterstücke von 303 Autor:innen auf «Plateforme» eingetragen sowie 162 Übersetzer:innen. Ziel war es, alle zeitgenössischen Dramenübersetzungen aus dem Französischen der letzten 30 Jahre zu erfassen. Dass dies ein sehr ambitioniertes Anliegen gewesen ist, war uns natürlich bewusst, aber wir wollten es zumindest versuchen, wollten den Übersetzungen zu mehr Sichtbarkeit verhelfen, wollten die Arbeit der Theaterübersetzer:innen anerkennen, ihr mit «Plateforme» eine eigene Bühne bieten.

Denn Theaterübersetzer:innen stehen noch stärker als Prosaübersetzer:innen häufig im Schatten. Selbstverständlich bilden diese Zahlen nicht die komplette Landschaft ab, sicherlich schlummert in der einen oder anderen Schublade ein «unverlegter» Text, der seinen Weg zu uns noch nicht gefunden hat, aber die Zahlen vermitteln eine ungefähre Vorstellung davon, wie sich die Szene gestaltet.

Das Phänomen der Ein-Stück-Übersetzer:innen

Was uns beim Einpflegen der Datensätze besonders aufgefallen ist, ist die Tatsache, dass circa 50 % der von uns eingetragenen Übersetzer:innen, also rund 80 Übersetzer:innen, mit nur einem einzigen Stück verzeichnet sind. Da stellt sich natürlich die Frage: was steckt dahinter? Wer sind diese «Ein-Stück-Übersetzer:innen»? (Diese Bezeichnung ist absolut nicht böse gemeint, sondern schien mir einfach eine sehr treffende Beschreibung für dieses Phänomen.) Sicherlich verbergen sich dahinter in einigen Fällen die Regisseur:innen, Dramaturg:innen oder Schauspieler:innen der deutschen Erstaufführungen, aber nicht immer trifft das zu.

Ist Theaterübersetzung also ein Bereich, in dem man nur schwer vorankommt? Oder hat es mit den Eigenheiten dieser Tätigkeit zu tun? Denn in einem ist sich die Szene einig: «Theater übersetzen, das kann nicht jeder.» – Ein Satz, der immer wieder fällt. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Theaterübersetzer:innen eine Verbindung zum Theater haben, zusätzlich noch als Dramaturg:innen, Regisseur:innen oder Schauspieler:innen arbeiten oder  gearbeitet haben, ein Theaterwissenschaftsstudium vorweisen können, übertiteln oder selbst Stücke schreiben.

Immerhin konnten fast 40 % der verzeichneten Übersetzer:innen in die Szene einsteigen, mit zwischen drei und zehn Stücken scheint sich bei ihnen das Theaterübersetzen nicht «einfach mal so ergeben zu haben.» Doch nach oben hin trennt sich die Spreu vom Weizen: Gerade mal 10 % haben mehr als zehn Theatertexte übersetzt, womit aktuell rund 20 Übersetzer:innen regelmäßig aus dem Französischen für die Bühne übersetzen.

Wer gedacht hat, Pseudonyme seien nur für Autor:innen, die nicht wollen, dass ihre Leidenschaft fürs Schreiben von erotischen Krimis ihren Ruf beschädigt, der sei eines Besseren belehrt: Es gibt auch Theaterübersetzer:innen, die lieber anonym bleiben. So mussten wir uns damit abfinden, dass es nicht zu allen auf dieser Seite eingetragenen Übersetzer:innen biografische Angaben gibt. Und manchmal scheint eine gewisse Nähe der übersetzten Stücke zum Boulevard-Theater tatsächlich der Grund dafür zu sein…

In einer statistischen Auswertung eines Berufsfelds darf die Frage nach der Geschlechterverteilung natürlich nicht ausbleiben. Und so habe ich untersucht, ob es mehr weibliche oder männliche Theaterübersetzer:innen gibt. Meine Recherche hat ergeben: 60 % der Übersetzer:innen sind weiblich, 40 % sind männlich – das hält sich also ungefähr die Waage.

Fehlender Nachwuchs

Und wie sieht die Altersstruktur aus? Auffällig ist, dass es kaum jüngere Übersetzer:innen gibt. Nur ca. 5 % sind unter 40 Jahre alt (7 Übersetzer:innen). Ist die Szene diesbezüglich etwa nicht aktiv genug? Immerhin gibt es diverse Übersetzungswerkstätten wie z. B. das vom Goethe Institut, dem Bureau du Théâtre et de la Danse, der Maison Antoine Vitez und Pro Helvetia unterstützte Programm «Theater Transfer/Transfert Théâtral». (Dort habe ich 2019 meine ersten Gehversuche im Theaterübersetzen getätigt, und ohne diese Werkstatt, da bin ich mir ziemlich sicher, hätte ich heute noch kein Stück übersetzt.) Oder ist das Übersetzen für die Bühne unattraktiv? Stecken dahinter eventuell finanzielle Gründe? Werden Theaterübersetzungen zu schlecht bezahlt? Oder ist die Szene schlichtweg gesättigt? Fakt ist, die meisten Übersetzer:innen in unserem Archiv sind zwischen 40 und 60, ein paar Wenige haben die 60 überschritten und eine Handvoll ist mittlerweile bereits verstorben.

Das Ein:e-Autor:in-mehrere-Übersetzer:innen-Phänomen

Fünf deutsche Stimmen für eine:n französische:n Autor:in? Was im Prosabereich eher die Ausnahme ist und für Verwunderung sorgt, scheint im Theaterbereich häufiger vorzukommen. Ein:e Theaterautor:in kann durchaus von mehreren Übersetzer:innen übersetzt werden. So haben wir von einem Autor fünf Stücke auf der Website verzeichnet, wobei jedes Stück von einer anderen Person übersetzt wurde. Ein anderer ist mit sieben Stücken vertreten und wurde von fünf verschiedenen Übersetzer:innen ins Deutsche übertragen… Übersetzerwechsel scheinen im Theaterbereich weder selten noch überraschend.

Und auch folgendes Phänomen existiert: Das Ein-Stück-zwei-Übersetzungen-Phänomen. Zwar lassen sich die doppelten Übersetzungen an einer Hand abzählen, aber sie treten auf. Und Grund dafür ist fast einzig und allein ein zu geringer Austausch zwischen Theatern und Verlagen, Unwissenheit darüber, welche Stücke bereits auf deutsch vorliegen.

Übersetzt ja, gespielt und gedruckt nein

Und welche Geschichten erzählen uns die Stücke? Was die 649 Übersetzungen anbelangt, so sind zwischen 25-35 % ohne Verlag, wobei die Dunkelziffer wesentlich höher liegen dürfte… Interessant ist auch, dass ca. 75 % der Texte noch auf ihre deutsche Erstaufführung warten, also noch nie in Deutschland, Österreich oder der Schweiz gespielt wurden. In Anbetracht dieser Tatsache stellt sich die Frage, wie nachhaltig das Übersetzen von Theatertexten ist. Ganze Werke werden in eine andere Sprache übertragen und nicht ein einziges Stück kommt zur Aufführung… Immerhin wurden etwa 35 % der Stücke szenisch gelesen.

Im Gegensatz zur französischen Verlagspraxis, in der Stücke systematisch gedruckt werden, zirkulieren die Texte in Deutschland und Österreich lediglich als pdf-Dateien (bzw. früher als Manuskripte); nur circa 15-20 % der Stücke sind in einer Publikation erschienen.

Dass Hörspiele sich immer größerer Beliebtheit erfreuen, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich, ist wohl kein Geheimnis. Daher überrascht der geringe Prozentsatz der von uns verzeichneten: Nur ca. 3 % der Stücke wurden als Hörspiele realisiert – Spitzenreiter in der Produktion ist mit Abstand der Saarländische Rundfunk.

Der frankophone globale Süden ist unterrepräsentiert

Wenn man die Stücke nach Sprachraum klassifiziert, fällt auf, dass neben Frankreich vor allem Quebecker Autor:innen und Stücke vertreten sind. Texte aus afrikanischen Ländern sind hingegen stark unterrepräsentiert. Es fehlen Autor:innen aus dem Senegal, Benin, Madagaskar und Niger. Aus Kamerun, dem Kongo, Burkina Faso und Mali konnten wir zwar Übersetzungen in die Datenbank einspeisen, allerdings in deutlich geringerer Anzahl. Auch Texte aus Polynesien, Haiti und Guadeloupe fehlen bislang. Dies mag jedoch auch an den Verbreitungswegen und der Förderpraxis im Theaterbereich liegen. Denn von französischen Institutionen geförderte Übersetzungen tauchen in unserer Statistik als «französische» Texte auf – unabhängig davon, aus welchen Ländern die Autor:innen stammen. Viele frankophone Künstler:innen besitzen nach langjähriger Arbeit im «Mutterland» (auch) die französische Staatsbürgerschaft, weshalb es durchaus vorstellbar ist, dass sie quasi post-kolonial «eingemeindet» wurden.

Abschließend möchte ich noch auf die Themen eingehen. Wovon handeln frankophone Teatertexte der letzten 30 Jahre? Das Thema Migration und Postkolonialismus bildet im französischsprachigen Theater einen Schwerpunkt. Auch die Gender-Thematik ist ein oft gewähltes Thema. Viele Stücke verhandeln Familienproblematiken und Alltägliches, auch Angst spielt in fast 10 % der Texte eine zentrale Rolle. Da sich unser Archiv jedoch im Entstehen befindet und weiterhin wächst, ist es zu früh, daraus Schlüsse auf sprachliche oder nationale Psychologien zu ziehen. Schließlich wird das Gesamtbild mit jeder neu erfassten Geschichte, mit jedem neu erfassten Datensatz komplexer.

PS: Diese Zahlen sind selbstverständlich ohne Gewähr.

 

Mira Lina Simon übersetzt Prosa, Lyrik und Dramatik aus dem Französischen und lebt in Berlin. Sie ist eine der Mitbegründerinnen von PLATEFORME.

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