Nayla Naoufal im Gespräch mit der Künstlerin Émilie Monnet Immersive Klangwelten
Vor zehn Jahren hast du Onishka gegründet, eine Kompagnie, deren Künstlerische Leiterin du bist. Entstammt der Name einer Indigenen Sprache?
Ja, Onishka bedeutet «Wach auf» auf Anishinaabemowin, einer Indigenen Sprache aus der Familie der Algonkin-Sprachen. Mit Onishka realisiere ich vor allem interdisziplinäre Theaterprojekte, die andere Kunstformen miteinbeziehen. Die Verankerung im Boden gibt meiner Arbeit ebenso viel Nahrung wie die unterschiedlichen künstlerischen Sprachen. Man vergisst manchmal, dass künstlerische Arbeit mit dem Ort verbunden ist, an dem man sich befindet, mit der Jahreszeit, während der man arbeitet. Die Orte prägen das, was ich erzähle.
Man kann das Land, den Boden in deiner Arbeit wirklich hören.
Ich dokumentiere gern das Leben um mich herum: die Geräusche im Wald, den Fluss, der sich mit den Jahreszeiten verändert, meine Gespräche mit Freund:innen und meiner Familie. Ich baue oft Klangfragmente aus dem Leben in meine Stücke ein. Ich mag es, wenn man spürt, wie im Laufe eines Gesprächs Beziehungen geknüpft werden, die Atmosphäre, die durch das Lachen und die Momente des Schweigens entsteht, die Art und Weise, wie Leute an ihrem Tee nippen. Ich denke und entwerfe Klang als etwas Immersives, das das Publikum einhüllt und dazu beiträgt, die vierte Wand zu durchbrechen.
Dein Anishinaabemowin-Sprachunterricht fließt auch in die Klanglandschaft von «Okinum» ein, einem immersiven Stück, das im Oktober 2018 am Centre du Théâtre d’Aujourd’hui in Montreal Premiere hatte. Vor Kurzem hast du davon eine Podcast-Fassung entwickelt.
Der Podcast bietet einen anderen Zugang zu der Erfahrung. Der Text wird einem ins Ohr geflüstert, die Klanglandschaft dient als Bindemittel zwischen mehreren Welten. Man kann das Stück auf intime Art und Weise erleben, im Bett mit Kopfhörern oder auch im Gehen. Der Podcast bietet auch interessante Möglichkeiten zur Immersion in die Musikalität der Indigenen Sprachen. Vom Aussterben bedroht, kommen diese Sprachen praktisch nie auf einer Theaterbühne vor.
Nächsten Herbst wirst du eine englischsprachige Version von «Okinum» für das National Arts Center in Ottawa und das Centaur Theatre in Montreal entwickeln. Hat das Stück einen wichtigen Stellenwert in deiner Entwicklung?
Ich würde sagen, ja, denn «Okinum» ist mein erstes wirkliches Theaterstück und der Beginn eines neuen Zyklus in meiner Arbeit. Es ist auch ein autofiktionales Solo, ein sehr intimes Projekt. «Okinum» ist ausgehend von einem Traum entstanden, in dem immer wieder ein riesiger Biber erschien. Der Damm, den Biber bauen, ist ein starkes Bild für die Regierungspolitik, die den Indigenen Frauen durch die Kolonisierung aufgezwungen wurde. In dem Stück geht es um die Befreiung der Sprache, der Stimmen der Frauen, die man generationenlang unterdrückt hat. Es geht auch um die Biber, die uns viel über ökologisches Gleichgewicht beibringen können.
Du arbeitest gerade an einem umfangreichen Dokumentartheaterprojekt über Marguerite Duplessis und über die Versklavung der Indigenen Bevölkerung in den von Frankreich in Besitz genommen Territorien, eine Realität, die nur wenige Leute kennen. Wer ist Marguerite?
Marguerite Duplessis ist eine vergessene Vorfahrin der heutigen Aktivist:innen. Sie entstammte sehr wahrscheinlich der Nation der Comanche. Sie ist die erste Indigene Person und die erste Sklavin, die innerhalb des kolonialen Rechtssystems einen Prozess angestrengt hat, um ihre Freiheit zu erlangen. Das war 1740 in Montreal. Die Arbeit an diesem Projekt ist ein äußerst bereichernder Prozess, in dessen Verlauf ich Aktivist:innen, Richter:innen und Historiker:innen getroffen habe, die sich mit Sklaverei beschäftigen. Ich wollte die direkte Verbindung zwischen Marguerites Geschichte und der Tatsache unterstreichen, dass seit dem Beginn des Kolonialismus Tausende Indigener Frauen und Mädchen verkauft und ermordet wurden oder verschwunden sind. «Marguerite» ist ein künstlerisches Statement. Um eine Diskussion zu eröffnen, diese Tatsachen bekannt zu machen, das kollektive Gedächtnis am Leben zu erhalten. Das Stück ist ein langes, chorisches Gedicht, in dem sich Dokumentartheater, Gesang, Tanz, Performance und Klangkunst verbinden. In Zusammenarbeit mit mehreren Koproduzent:innen realisiert, besteht das Projekt aus drei Formaten: einer Aufführung für die große Bühne, einem Podcast und einem performativen Audiowalk an Gedächtnisorten in Montreal, wo Marguerite lebte. Die Podcast-Reihe erlaubt es, die Bühnenfassung zu kontextualisieren und die Reflexion über die Geschichte und ihre Spuren in der gegenwärtigen Realität zu vertiefen.
Durch die Einbeziehung Indigener und afro-kanadischer Künstler:innen zeigt das Projekt auch die Verbindung zwischen den Kämpfen zweier unterdrückter Frauengruppen auf. Worin besteht diese Verbindung?
Die Kolonisierung der beiden amerikanischen Kontinente führte zur finanziellen Ausbeutung von Landstrichen, natürlichen Ressourcen und Körpern, sowohl Indigenen als auch Schwarzen. Wenn man an Marguerite denkt, denkt man sofort an Marie-Joseph Angélique, eine Schwarze Frau, die 1734 in derselben Straße in Montreal wohnte, die als Brandstifterin angeklagt und gehenkt wurde. Es handelt sich um eine wichtige Figur im Widerstand gegen die Sklaverei in Quebec. Die chorische Marguerite in meinem Stück erinnert an alle Marguerites, eine Marie-Marguerite, die von Kongo gewaltsam nach Martinique verschifft wurde, ebenso wie eine Margot, die gezwungen wurde, als Sexarbeiterin an Bord eines Frachtschiffs zu gehen. Sie versucht auch, Marguerites inneres Feuer zu würdigen, ihren Kampf für die Anerkennung ihrer Rechte, in einer Gesellschaft, die Indigene Frauen als Möbelstücke betrachtete.
Zwischen «Okinum» und «Marguerite», hast du «Kiciweok, un lexique de 13 mots autochtones qui donnent un sens» (ein Glossar mit dreizehn sinnstiftenden Indigenen Wörtern, Anm. d. Red.) entwickelt. Das ist eine Art Happening, bei dem dreizehn Indigene Künstler:innen ein Wort aus der Sprache ihrer jeweiligen Nationen sprachlich oder performativ präsentieren.
Ich habe «Kiciweok» wie ein festliches Happening konstruiert. Es liegt etwas sehr Rührendes in der Tatsache, so viele Indigene Körper auf der Bühne zu sehen, so viele unterschiedliche Indigene Sprachen zu hören. Es ist wichtig, zu begreifen, wie wichtig es ist, diese jahrtausendealten Sprachen neu zu beleben, politische Strategien und Programme zu entwickeln, um sie zu schützen. In dieser Richtung unternehmen die Quebecer und die kanadische Regierung äußerst wenig.
Aus dem Französischen von Frank Weigand
Der Text erschien ursprünglich im Sonderheft Theater der Zeit Spezial «Kanada» (2021).
Den Podcast «Marguerite – la traversée» von Émilie Monnet können Sie hier hören.
Der Band 23 der Anthologie SCÈNE wird am 12. November am Maxim Gorki Berlin vorgestellt, mehr Infos hier.
Émilie Monnet ist Tochter einer Anishinaabe (die Anishinaabeg sind eine der Indigenen Nationen Nordamerikas) und eines Franzosen. Sie schreibt und inszeniert nicht nur ihre eigenen Arbeiten, sondern nimmt auch als Interpretin an den Projekten anderer teil. Sie ist ebenfalls Begründerin der Scène Contemporaine Autochtone, einer Präsentationsplattform ohne festen Ort, die einen Austausch zwischen Künstler:innen der Indigenen Nationen, der Inuit und der Métis ermöglicht.
Geboren in Beirut, lebt Nayla Naoufal als Autorin, Kulturvermittlerin und Forscherin im Bereich der Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften in Montréal. Ihre Schwerpunkte sind Care-Praktiken, dekoloniale Kunstpraxis und alternative Formen des Zusammenlebens. Sie arbeitet regelmäßig mit indigenen Künstlern:innen zusammen sowie mit Künstlern:innen, die sich mit ökologischen Praktiken und nicht-westlichem Wissen auseinandersetzen.
Noch keine Kommentare / Diskutieren Sie mit!
Wir freuen uns auf Ihre Kommentare. Da wir die Diskussionen moderieren, kann es sein, dass Kommentare nicht sofort erscheinen. Mehr zu den Diskussionsregeln erfahren Sie hier.