Du arbeitest gerade an einem umfangreichen Dokumentartheaterprojekt über Marguerite Duplessis und über die Versklavung der Indigenen Bevölkerung in den von Frankreich in Besitz genommen Territorien, eine Realität, die nur wenige Leute kennen. Wer ist Marguerite?
Marguerite Duplessis ist eine vergessene Vorfahrin der heutigen Aktivist:innen. Sie entstammte sehr wahrscheinlich der Nation der Comanche. Sie ist die erste Indigene Person und die erste Sklavin, die innerhalb des kolonialen Rechtssystems einen Prozess angestrengt hat, um ihre Freiheit zu erlangen. Das war 1740 in Montreal. Die Arbeit an diesem Projekt ist ein äußerst bereichernder Prozess, in dessen Verlauf ich Aktivist:innen, Richter:innen und Historiker:innen getroffen habe, die sich mit Sklaverei beschäftigen. Ich wollte die direkte Verbindung zwischen Marguerites Geschichte und der Tatsache unterstreichen, dass seit dem Beginn des Kolonialismus Tausende Indigener Frauen und Mädchen verkauft und ermordet wurden oder verschwunden sind. «Marguerite» ist ein künstlerisches Statement. Um eine Diskussion zu eröffnen, diese Tatsachen bekannt zu machen, das kollektive Gedächtnis am Leben zu erhalten. Das Stück ist ein langes, chorisches Gedicht, in dem sich Dokumentartheater, Gesang, Tanz, Performance und Klangkunst verbinden. In Zusammenarbeit mit mehreren Koproduzent:innen realisiert, besteht das Projekt aus drei Formaten: einer Aufführung für die große Bühne, einem Podcast und einem performativen Audiowalk an Gedächtnisorten in Montreal, wo Marguerite lebte. Die Podcast-Reihe erlaubt es, die Bühnenfassung zu kontextualisieren und die Reflexion über die Geschichte und ihre Spuren in der gegenwärtigen Realität zu vertiefen.
Durch die Einbeziehung Indigener und afro-kanadischer Künstler:innen zeigt das Projekt auch die Verbindung zwischen den Kämpfen zweier unterdrückter Frauengruppen auf. Worin besteht diese Verbindung?
Die Kolonisierung der beiden amerikanischen Kontinente führte zur finanziellen Ausbeutung von Landstrichen, natürlichen Ressourcen und Körpern, sowohl Indigenen als auch Schwarzen. Wenn man an Marguerite denkt, denkt man sofort an Marie-Joseph Angélique, eine Schwarze Frau, die 1734 in derselben Straße in Montreal wohnte, die als Brandstifterin angeklagt und gehenkt wurde. Es handelt sich um eine wichtige Figur im Widerstand gegen die Sklaverei in Quebec. Die chorische Marguerite in meinem Stück erinnert an alle Marguerites, eine Marie-Marguerite, die von Kongo gewaltsam nach Martinique verschifft wurde, ebenso wie eine Margot, die gezwungen wurde, als Sexarbeiterin an Bord eines Frachtschiffs zu gehen. Sie versucht auch, Marguerites inneres Feuer zu würdigen, ihren Kampf für die Anerkennung ihrer Rechte, in einer Gesellschaft, die Indigene Frauen als Möbelstücke betrachtete.
Zwischen «Okinum» und «Marguerite», hast du «Kiciweok, un lexique de 13 mots autochtones qui donnent un sens» (ein Glossar mit dreizehn sinnstiftenden Indigenen Wörtern, Anm. d. Red.) entwickelt. Das ist eine Art Happening, bei dem dreizehn Indigene Künstler:innen ein Wort aus der Sprache ihrer jeweiligen Nationen sprachlich oder performativ präsentieren.
Ich habe «Kiciweok» wie ein festliches Happening konstruiert. Es liegt etwas sehr Rührendes in der Tatsache, so viele Indigene Körper auf der Bühne zu sehen, so viele unterschiedliche Indigene Sprachen zu hören. Es ist wichtig, zu begreifen, wie wichtig es ist, diese jahrtausendealten Sprachen neu zu beleben, politische Strategien und Programme zu entwickeln, um sie zu schützen. In dieser Richtung unternehmen die Quebecer und die kanadische Regierung äußerst wenig.
Aus dem Französischen von Frank Weigand
Der Text erschien ursprünglich im Sonderheft Theater der Zeit Spezial «Kanada» (2021).
Den Podcast «Marguerite – la traversée» von Émilie Monnet können Sie hier hören.
Der Band 23 der Anthologie SCÈNE wird am 12. November am Maxim Gorki Berlin vorgestellt, mehr Infos hier.
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