Nina Rühmeier und Poutiaire Lionel Somé im Gespräch über „Thiaroye“ von Alexandra Badea Frieden mit dem Trauma schließen

Um (post)koloniale Traumata in der französischen Geschichte geht es in der Theatertrilogie «Aus dem Schatten» der franko-rumänischen Dramatikerin Alexandra Badea. Der erste Teil «Thiaroye» thematisiert ein Massaker in der Nähe der senegalesischen Hauptstadt Dakar, bei dem im Jahr 1944 die französische Armee das Feuer auf Soldaten aus afrikanischen Ländern eröffnete, die im Zweiten Weltkrieg in ihren Reihen gedient hatten. Anlässlich der deutschsprachigen Erstaufführung des Stückes, die am 10. Januar 2025 am Schauspiel Köln Premiere hat, sprach die Dramaturgin der Inszenierung, Nina Rühmeier, mit deren Regisseur, Poutiaire Lionel Somé, über die Arbeit mit dem Text und seine persönliche Perspektive auf den Stoff.

Die Schauspieler*innen Serge Fouha und Katharina Schmalenberg in «Aus dem Schatten: Thiaroye» von Alexandra Badea, inszeniert von Poutiaire Lionel Somé (Foto: Thilo Beu)

Nina Rühmeier: Lionel, du inszenierst momentan am Schauspiel Köln die deutschsprachige Erstaufführung des Stückes »Aus dem Schatten: Thiaroye« der französisch-rumänischen Dramatikerin Alexandra Badea. Das Stück ist der erste Teil einer Trilogie, zu der Badea durch ihre Einbürgerung in Frankreich inspiriert wurde und in der sie den Fokus auf die Schattenseiten der französischen Geschichte richtet. Was hat dich dazu bewogen, dieses Stück zu inszenieren?

Poutiaire Lionel Somé: Die Entscheidung für das Stück war, würde ich sagen, eine fast organische. Denn ich wollte schon immer etwas zu diesem Thema machen, dem Massaker von Thiaroye. Und als du mir neben vielen anderen Stücken diesen Text geschickt hast, hat er dementsprechend etwas tief in mir berührt. Ich bin selbst der Enkel eines Überlebenden des Massakers von Thiaroye. Mein Großvater, Sondar Somé, hat während des Zweiten Weltkriegs an der Seite Frankreichs gekämpft und gehörte zu den Soldaten, die im Herbst 1944 in das Lager Thiaroye, im heutigen Senegal, zurückgebracht wurden. Er hatte das Glück, zu den Überlebenden des Massakers zu gehören. Als ich den Text von Alexandra Badea gelesen habe, hat das Thema natürlich in meinem tiefsten Inneren Widerhall gefunden.

Und schließlich hat mich Alexandras Schreibstil angesprochen, der poetisch und zugleich sehr visuell ist, fast filmisch in der Weise, wie sie die Figuren entwickelt hat, mit ihren unterschiedlichen Herkünften, die vom Schicksal auf die eine oder andere Weise miteinander verbunden sind, ohne sich dessen bewusst zu sein. Also, für mich war die Wahl dieses Stücks ein wenig schicksalhaft. Denn ursprünglich hatte ich, als das Schauspiel Köln mir vorschlug, eine Inszenierung dort zu machen, etwas ganz anderes im Sinn.

Schauspielerin Zainab Alsawah in «Aus dem Schatten: Thiaroye» von Alexandra Badea, inszeniert von Poutiaire Lionel Somé (Foto: Thilo Beu)

Du liest das Stück von Alexandra Badea aus mindestens zwei Perspektiven, von zwei Kontinenten aus. In dem Text geht es auch darum, was es für Menschen bedeutet, ihr Land – und das ihrer Vorfahren – zu verlassen. Wie denkst du, beeinflussen dich deine eigenen Erfahrungen bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema in der Inszenierung?

Ja, in der Tat, meine afro-europäische Erfahrung hat es mir ermöglicht, das Stück aus zwei völlig unterschiedlichen Perspektiven zu lesen. Die Tatsache, dass ich in den letzten Jahren in Europa – und speziell hier in Deutschland – gelebt habe und permanent mit der Pflicht zur Erinnerung an die historischen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs konfrontiert bin, die in der europäischen Geschichte sehr präsent und in der deutschen Kultur verankert ist, und zu erkennen, wie wichtig es hier im Westen ist, der Opfer dieses Krieges zu gedenken, und dass der Beitrag Afrikas zur Lösung dieses Konflikts in den Geschichtsbüchern fast nirgends erwähnt wird. Wir, die Nachkommen der afrikanischen Soldaten, hatten nicht diese Möglichkeit unserer Toten zu gedenken und ebenfalls Frieden mit der traumatischen Vergangenheit zu schließen.

All diese Elemente spielen in der Inszenierung eine wichtige Rolle. Auch der Aspekt der kulturellen Diversität der Personnage, die Alexandra entwickelt hat, war mir wichtig und ich habe versucht, das in meinem Ensemble abzubilden. Ich habe mich auch bemüht, die individuellen Biografien der Schauspieler*innen beim Entwickeln ihrer Figuren mit einzubeziehen. Also, habe ich tatsächlich viele meiner persönlichen Erfahrungen, aber auch die persönlichen Erfahrungen meines Ensembles in die Inszenierung einfließen lassen.

Schauspieler Glenn Golz in «Aus dem Schatten: Thiaroye» von Alexandra Badea, inszeniert von Poutiaire Lionel Somé (Foto: Thilo Beu)

Diese Inszenierung ist auch eine Hommage an diese afrikanischen Soldaten, die für das Europa gekämpft haben, in dem wir heute leben, die also dafür gesorgt haben, dass das moderne Europa von heute existiert. Ich empfinde es als meine Aufgabe, an diese Vergessenen der Geschichte zu erinnern. Übrigens – Ironie des Schicksals: Am 1. Dezember, dem 80. Jahrestag des Massakers von Thiaroye, erfuhr ich aus den Medien, dass die französische Regierung zum ersten Mal anerkennt, dass es sich tatsächlich um ein Massaker gehandelt hat!

So wurde dieses Projekt umso persönlicher für mich, wie ein dringlicher Appell. Es ist ein tiefes Trauma, ein persönliches, aber ich würde sagen, dass es sich auf einer übergreifenden Ebene um ein afrikanisches Trauma handelt, dass unsere Großeltern, unsere Vorfahren bis heute nicht in der Geschichte anerkannt wurden, der »Weltgeschichte«, wie sie hier im Westen gerne genannt wird. Eine Weltgeschichte, die unsere individuellen Geschichten und den Beitrag des afrikanischen Kontinents nicht berücksichtigt.

Schauspielerin Katharina Schmalenberg in «Aus dem Schatten: Thiaroye» von Alexandra Badea, inszeniert von Poutiaire Lionel Somé (Foto: Thilo Beu)

In der europäischen Öffentlichkeit wusste man lange Zeit, zum Teil bis heute, nichts über das Massaker von Thiaroye, auch in Frankreich nicht. Welche Bedeutung hat Thiaroye in den westafrikanischen Gesellschaften?

Ja, wie viele unserer Denker*innen, Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen wird Afrika in der Weltgeschichte nur sehr selten erwähnt. Und die Tatsache, dass Thiaroye, das Massaker von Thiaroye, nicht in den Geschichtsbüchern auftaucht, ist für mich eine logische Folge der Ungerechtigkeiten, die wir als Afrikaner*innen erfahren, als Nachkommen einer Zivilisation, die der Welt, in der wir leben, alles gegeben hat und immer noch mehr gibt. Das Massaker von Thiaroye bleibt für uns in Afrika, genauer gesagt in Westafrika, eine offene Wunde …

Es ist ein Trauma, das unseren Großeltern angetan wurde und das wir geerbt haben. Es gibt Statistiken, die besagen, dass aus jeder dritten Familie in Subsahara-Afrika ein Angehöriger im Ersten oder Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Alliierten gekämpft hat. Die Ereignisse von Thiaroye haben also einen sehr, sehr bitteren Geschmack bei uns hinterlassen. Und es ist eine unverbundene Wunde, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Denn unsere Großeltern, unsere Vorfahren fühlten sich betrogen.

Die Schauspieler*innen Serge Fouha und Katharina Schmalenberg in «Aus dem Schatten: Thiaroye» von Alexandra Badea, inszeniert von Poutiaire Lionel Somé (Foto: Thilo Beu)

Wenn wir bis zur ersten Begegnung zwischen dem weißen Mann und dem Afrikaner zurückgehen, so ist belegt, dass die Europäer*innen gut aufgenommen wurden, mit Geschenken überhäuft wurden, um dann als Sklavenhalter*innen und später als Kolonisatoren*innen zurückzukehren – und in der Zwischenzeit als Lehrmeister*innen, um uns die Göttlichkeit zu bringen, als ob der Afrikaner keinen Gott kennen würde. Das Massaker von Thiaroye ist ein transgenerationales Trauma, das noch immer unabgeschlossen ist. Die Tatsache, dass Frankreich dieses Jahr das Massaker endlich anerkannt hat, ist für mich, und ich denke für viele andere, nur ein symbolischer Akt ohne jede Konsequenz. Denn wie bei vielen anderen Massakern und Völkermorden, die der Westen in Afrika begangen hat, speist man uns mit einer platten Entschuldigung ab, die folgenlos bleibt. So empfinde ich die etwas billige Anerkennung des Massaker von Thiaroye durch die Regierung Macron.

Was wir wollen, ist der nächste Schritt. Wenn das Massaker anerkannt wurde, müssen die Verantwortlichen ermittelt werden. Es muss angemessene Reparationen geben. Die Leichen müssen gefunden werden, das Massengrab, in dem unsere Großeltern wie Tiere begraben wurden. Und es muss endlich Gräber und Beerdigungen geben, die ihres Beitrags zur Weltgeschichte würdig sind. Damit die Menschen in Afrika, die unter diesem Trauma gelitten haben, endlich trauern und Frieden schließen können. Das ist es auch, was ich unterschwellig durch meine Inszenierung zu vermitteln versuche.

Die Tatsache, dass wir nicht die Möglichkeit hatten, für diejenigen zu trauern, die einen nahestehenden Menschen bei dem Massaker von Thiaroye verloren haben, dass diese bis heute nicht die Möglichkeit hatten, ihre Toten zu begraben, ist nicht hinnehmbar. Bei uns ist das heilig, der Respekt vor den Toten, der Respekt vor der Bestattung. Thiaroye ist also ein transgenerationales Trauma, das erst dann gelöst werden kann, wenn wir die Möglichkeit bekommen, Frieden mit unseren Toten zu schließen. Und das ist nur möglich, wenn man uns die Gelegenheit gibt, sie würdevoll zu begraben.

Die Schauspieler*innen Serge Fouha und Katharina Schmalenberg in «Aus dem Schatten: Thiaroye» von Alexandra Badea, inszeniert von Poutiaire Lionel Somé (Foto: Thilo Beu)

Was ist dir bei der Arbeit an diesem Stück besonders wichtig?

Für mich ist es, wie bei allen meinen Inszenierungen, am wichtigsten, dass mein künstlerisches Team und meine Schauspieler*innen, den Ansatz hinter meinen künstlerischen Entscheidungen verstehen, die Erzählung, die ich zu entwickeln versuche, und die Botschaft, die ich zu vermitteln versuche.

Für mich ist die Inszenierung von »Thiaroye« kein Hype-Thema, mit dem man versucht, möglichst viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Es ist, wie ich schon sagte, wirklich eine persönliche Herangehensweise, eine Konfrontation mit einem Trauma, das mir hinterlassen wurde und das ich auf keinen Fall an meine Kinder, an die neue Generation, weitergeben möchte. Für mich ist das Wichtigste an der Inszenierung von »Thiaroye« also die Botschaft, die ich zu vermitteln versuche. Dass durch »Thiaroye« dieses Problem des transgenerationalen Traumas, mit dem unsere Generation und die kommende Generation konfrontiert sind, auf den Tisch kommt.

Die Schauspieler Glenn Goltz und Leonhardt Burkhardt in «Aus dem Schatten: Thiaroye» von Alexandra Badea, inszeniert von Poutiaire Lionel Somé (Foto: Thilo Beu)

Wir sollten gemeinsam nach Wegen suchen, es zu exorzieren. Wir leben in einer konfliktbeladenen Zeit, die schwer an den Folgen von Taten trägt, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben und für die wir heute und in Zukunft auch unsere Nachkommen die Verantwortung übernehmen müssen. Genau wie die Figuren in dem Stück von Alexandra Badea – vor der ich übrigens den Hut ziehe! Jede dieser Figuren hat von der vorhergehenden Generation ein Trauma geerbt und kämpft so gut es geht darum, diesen Konflikt zu lösen.

Für mich stellt sich also die Frage: Was machen wir mit diesen Traumata? Ignorieren wir sie und leben weiter mit ihnen? Sagen wir uns wie viele andere: »Nein, ich habe damit nichts zu tun, also ist es nicht mein Problem«? Oder setzen wir uns zusammen und suchen nach Lösungsansätzen? Genau das habe ich versucht, in meine Inszenierung einfließen zu lassen. Und ich hoffe, dass all diese Fragen beim Publikum auf Resonanz stoßen werden.

Lionel, ich danke dir sehr für dieses Gespräch und deine offenen Antworten.

 

(Übersetzung des Interviews aus dem Französischen von Nina Rühmeier)

 


«Auf dem Schatten: Thiaroye» von Alexandra Badea

(aus dem Französischen von Frank Weigand)

Regie: Poutiaire Lionel Somé

Premiere: 10. Januar 2025 im Depot 2, Schauspiel Köln

Nächste Termine und Tickets siehe hier.


 

Der Regisseur Poutiaire Lionel Somé (Foto: privat)

Poutiaire Lionel Somé ist Künstler, Filmemacher und Regisseur. In seinem Heimatland Burkina Faso studierte er an der Akademie für Film- und Fernsehproduktion in Ouagadougou. Prägend in dieser Zeit war die Begegnung mit dem deutschen Künstler und Regisseur Christoph Schlingensief, für dessen Projekt VIA INTOLLERANZA II er die Videodokumentation übernahm. 2018 inszeniert er ein zweiteiliges crossmediales Projekt im Rahmen des Kooperationsprojektes I LIKE AFRICA AND AFRICA LIKES ME – I LIKE EUROPE AND EUROPE LIKES ME am Theater Lübeck, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes. L’AFRICAINE nach Giacomo Meyerbeers Grand Opera an der Oper Halle wurde mit dem Spitzenplatz bei der Autorenumfragen der Deutschen Bühne 2019 als innovativstes Format des Jahres ausgezeichnet. L’EUROPÉENNE, nach seinem Kurzfilm THE WRONG SIDE wurde 2020 am Theater Lübeck uraufgeführt und wurde von der Deutschen Bühne als »Politoper« gefeiert. Seine Arbeiten wurden bei der Kunstbiennale in Venedig, bei den Filmfestspielen in Cannes und beim Student Academy Awards in Los Angeles ausgezeichnet. AUS DEM SCHATTEN: THIAROYE von Alexandra Badea ist seine erste Inszenierung am Schauspiel Köln.

Die Dramaturgin Nina Rühmeier (Foto: Thommy Hetzel)

Nina Rühmeier arbeitet als Dramaturgin. Fest- und Gast-Engagements führten sie u. a. an das Maxim Gorki Theater Berlin, das Schauspiel Köln, das Nationaltheater Mannheim, das Schauspielhaus Zürich, das Theater Bremen, das Staatstheater Augsburg und das Hans Otto Theater Potsdam. Zuletzt übernahm sie die Dramaturgie bei der deutschsprachigen Erstaufführung des Stückes AUS DEM SCHATTEN: THIAROYE von Alexandra Badea (Übersetzung Frank Weigand; Regie: Poutiaire Lionel Somé) am Schauspiel Köln. Darüber hinaus ist sie Mitbegründerin des Künstlerinnenkollektivs *POLAR PUBLIK und verfasst gelegentlich Beiträge für Radiosender und Magazine.

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