Polyfonie, Community und kollektive Wut Internationale Queere Dramatik
von Luise Würth
Fünf Jahre vergingen vom Aufruf zur Einsendung aktueller, internationaler Theatertexte mit queerer Perspektive – das war 2018 – bis zur Buchpremiere am Literarischen Colloquium Berlin im Juni 2022. Entstanden ist eine Anthologie mit neun Theatertexten aus sechs verschiedenen Sprachen, die einen Querschnitt durch internationale Dramatik versucht. Die Sammlung von Texten erzählt queere Realitäten und Utopien mal euphorisch, mal nachdenklich, mal wütend und voller Schmerz, mal nüchtern und mal absurd komisch.
Aber was ist überhaupt queere Dramatik? Ist die schreibende Person queer, die Figuren im Stück, oder macht vielmehr, wie über ein Thema geschrieben wird, also die Narration als solche in einem Hinterfragen von Normen, Kanon und Hegemonie, das queere Schreiben aus? Oder ist es eben ein «Experimentierfeld», das sich jeglichem Definitionsversuch und möglicher Exotisierung entzieht, wie es die Herausgeberinnen in ihrem Vorwort beschreiben? Der langjährige Weg zum fertigen Buch, vom Sichten der 130 Einsendungen über Lesungen, Übersetzungswerkstätten und Podiumsgespräche ist von ebenjener Frage gekennzeichnet: Die gewählten Theatertexte in deutscher Übersetzung reiben sich alle auf unterschiedliche Art und Weise an dem, was Queerness mit Theatertexten macht und wie sich queere Sprachhandlungen übersetzen lassen, zeigen diverse Ausdrucksformen queerer Identitäten und betreten damit wahrhaftig undefiniertes Gelände.
Im Mittelpunkt der neun Texte steht die Frage nach Repräsentation, die anhand von intersektionalen Perspektiven auf Körper, Gender, Sexualität und Begehren, Narration und Sprache verhandelt wird. In ihrem Verhandeln queerer Realität und Utopie, geben sie immer auch einen Einblick in die patriarchale, cis-hetero-normative Mehrheitsgesellschaft.
In «Collective Rage. Ein Stück in fünf Bettys» parodiert Autor*in Jen Silverman den westlichen Theaterkanon mit einem Stück im Stück, überschreibt FLINTA-Figuren, Sexualität und Gender so sehr, dass einem nur noch der lächerliche cis-männliche Blick zurückgrinst und vor allem vollkommen unwichtig wird. Das Stück funktioniert wie Drag: durch Aneignung, Nachahmung und Verspottung performen die fünf Bettys vollkommen überzogene (Betty-Boop-)Stereotypen. Sie entwickeln ein Stück fürs «The-Atah», einen absolut elitären Ort, schreiben sich selbst in ihn ein, um sich letztendlich aus der engen, stereotypen Betty-Haut und von Zuschreibungen zu befreien.
Auch in «Bühne des Begehrens» benutzt Autorin Milja Sarkola den Topos des Stücks im Stück: Ihre Hauptfigur schreibt und inszeniert ein Stück über ihre Erfahrungen und ihren Werdegang, während gleichzeitig die private Beziehungsebene zwischen ihr und ihrer Partnerin verhandelt wird: «Durch die Blicke der anderen bekommt die Situation etwas Unpassendes. Als ob unsere Umarmung nur für den Blick der anderen da ist. Eine Performance.» Sarkola verhandelt Machtstrukturen am Theater, lesbische und weibliche Sichtbarkeit ebenda, wie auch die Performancemachung von lesbischer Lust und Sexualität im Patriarchat – und das mit einer Menge trockenem Humor. Die Bühnen des Begehrens verschwimmen und kreieren in ihrem Setting ein genaues Bild verschiedener, eng verwobener Machtsysteme. Die Autorin Sarkola stellt den male gaze aus, während sie gleichzeitig auslotet, was ein female gaze sein kann: «Wenn sowohl hetero- als auch homosexuelles Begehren fast nur von Heteros gespielt wird, dann haben wir fast immer den heterosexuellen Blick auf Sexualität und Geschlecht.»
Das Stück verbleibt in der Übersetzung, anders als im finnischen Original (Finnisch ist eine genderneutrale Sprache ohne Pronomen und gegenderte Nomen) in einer sprachlichen Binarität. So sind es Schauspielerinnen und nicht Schauspieler*innen, die sich selbst auf der Bühne des Begehrens verhandeln. Die Übersetzerin legt ihre Entscheidung auf dem Podium der Buchpremiere da: Das Lesen ohne Gendersternchen falle einfacher. In einer Binarität zu verbleiben, nicht weil es sich bei «Bühne des Begehrens» um ein Stück über cis-Frauen handelt (was Sarkola so nie festlegt, lesbisch und cis bedingen sich ja nicht zwingend), sondern aus vermeintlicher Sprachästhetik, scheint jedoch nicht queer in translation – wie mehrere Veranstaltungen im Rahmen der Buchenstehung und auch die Buchpremiere im Literarischen Colloquium Berlin hießen -, sondern vielmehr als sei das Queere leider lost in translation. Mit dem Ziel queere Repräsentation jenseits von Zweigeschlechtlichkeit auf die Bühne zu holen, muss feststehen, dass dazu nicht nur queere Perspektiven in queeren Narrativen, sondern auch die Sprache dieser gehören. Sprache schafft Realität und diese ist nicht binär.
Übersetzer*in Oliver Kontny beschreibt in einer Anmerkung zu Ebru Nihan Celkans fulminantem Monodrama «Der Tag nach dem Tag, an dem niemand starb» die Entscheidungen des Übertragens queerer Narrative und gewährt so einen Einblick in Vielschichtigkeiten von Sprache und queeren Codes. Die Autorin entwirft in ihrem Text ein Bild der gewaltvollen Realität von trans* Frauen und formuliert einen Gegenentwurf zu stereotypen Darstellungen. «Der Tag nach dem Tag, an dem niemand starb» erzählt von Prekarisierung, Sexarbeit und Gewalt, aber auch von Solidarität, Community und Selbstbestimmung. Ebru Nihan Celkan schreibt mit Umut eine trans* Figur, die handelt.
Ebenso gelingt es auch Raphaël Amahl Khouri in seinem Stück «He She Me» die drei Figuren ihre Geschichten von Genderidentität, Transition, Sexualität, Repression und den Verlust von biologischer Familie mit liebevollem Blick auf chosen family (selbstgewählte Familie als Konzept queerer Lebenswelten, Anm. d. Red.), Unterstützungsmechanismen, Solidarität und Humor im Umgang mit hetero-cis-Normativität erzählen zu lassen. Entstanden aus Interviews mit 14 arabischen Freund*innen des Autors bewegt sich «He She Me» im Spannungsfeld von Religion, Politik, (Wahl-)Familie und Freund*innenschaften. Die Realität eines solidarischen Miteinanders zeigt der Text im Umgang mit transfeindlicher verbaler und körperlicher Gewalt und in der Gleichzeitigkeit von Schmerz und liebevollem Zusammensein.
Die neun Theater- und Performancetexte verhandeln textimmanent individuell und kollektiv die Frage nach queeren Schreiben und Übersetzen, queerem Erzählen, Repräsentation und was dieses Label queer überhaupt bedeutet. Es werden (fast) ausschließlich Geschichten erzählt, in denen die Figuren die Hetero-cis-Normativität aktiv hinterfragen. In dem Stück «Gender» von Magne van den Berg, sind sie leider zudem auch noch damit beschäftigt, sich konstant zu erklären. Der letzte Text im Band fällt aus dem Konzept, sind doch die Figuren in diesem didaktischen Dialog für ein Publikum ab 12 Jahren, zu sehr damit beschäftigt Misogynie und Transfeindlichkeit zu reproduzieren sowie Gender und Sexualität zu verwechseln – und das, obwohl sich eine*r der Figuren als nicht-binär positioniert. Bedauerlicherweise liefert «Gender» nur eine binäre und ungenaue Auseinandersetzung mit dem Titelthema des Textes. Die Autorin verstärkt dies mit ihrem Verhalten bei der Buchpräsentation, indem sie trans* und queere Personen othert, ohne ihr Zustimmen fotografiert, falsch gendert und nach von ihr eingeforderter Kritik an ihrem Text Absolution ihrer weißen, cis-hetero-Gewissensbisse aufgrund der geäußerten queeren Kritik bei ihren Kritiker*innen sucht. Um queere Narrative zu zentrieren, muss der cis-heterosexuelle Blick auf Sexualität und Gender durch queere Perspektiven ersetzt werden, um nicht wie «Gender» auf Kosten queerer Menschen zu verhandeln. In einem sonst so sorgfältig zusammengestellten Band verstärkt dieser Text die Frage nach queerem Schreiben und queeren Narrativen.
Dennoch versammelt «Surf durch undefiniertes Gelände» erfolgreich eine Vielzahl künstlerischer Interventionen, die hoffentlich bald auf dem ein oder anderen Schreibtisch eines Dramaturgieteams liegen werden. Denn der Anlass diesen Band zusammenzustellen, hat sich in seiner langjährigen Genese nicht geändert: Queere Körper, Begehren und Narrative sind bis dato auf deutschsprachigen Bühnen unter- und falsch repräsentiert.
Surf durch undefiniertes Gelände
Internationale queere Dramatik
Charlotte Bomy / Lisa Wegener (Hrsg.)
Drama Panorama – Neue internationale Theatertexte, Bd. 4
ISBN: 978-3-95808-329-5
Erscheinungsdatum: 30.03.2022
Luise Würth studierte Literatur- und Theaterwissenschaft in Berlin und Großbritannien und vertiefte ihre wissenschaftliche Arbeit am Zentrum für Antisemitismusforschung im Rahmen eines Masterstudiums. Nach Stationen als Regie- und Dramaturgieassistentin am Internationalen Theaterinstitut, Maxim Gorki Theater Berlin und HAU Hebbel am Ufer (Bündnis Internationaler Produktionshäuser) entwickelte sie mit verschiedenen Künstler*innen eigene Projekte als Dramaturgin zwischen Staatstheater und Freier Szene. Queerness und intersektionaler Feminismus in Kunst und Arbeitsprozessen spielen eine zentrale Rolle in ihrer Arbeit.
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