Annähern, Beschleunigen und Vermischen
Von Sonja Berg
Durch meine allererste Teilnahme am Festival Primeurs (als Zuschauerin und vor allem als Theaterkünstlerin) tauchte ich in die Welten der unterschiedlichsten Übersetzer:innen ein:
Jener, die aufgrund ihrer Ausbildung Theater- und sonstige Texte übersetzen.
Jener, die an einem Festivalabend wie bei Primeurs die Diskussionen übersetzen, und zuletzt derjenigen, die versuchen, gesellschaftliche Themen zu übersetzen, indem sie für das Theater schreiben oder Regie führen. Eine ganze Menge Menschen also, die einen Großteil ihrer Zeit dem Übersetzen widmen.
Seitdem unsere westlichen Gesellschaften Interkulturalität als Teil des sozialen Lebens begreifen und eingesehen haben, dass Kulturen vielfältig und stets im Wandel sind, ist das Übersetzen zu einer Art Baustelle geworden, die gleichzeitig einfach und immens kompliziert ist. Wie die französische Autorin und Regisseurin Eva Doumbia bei einem Publikumsgespräch sagte: «Schade, dass der Titel meines Stücks nicht Verlan-artig[1] übersetzt wurde, aber wenn es dafür keine Entsprechung gibt …».
Mir scheint, dass man angesichts der Fortschritte in den Übersetzungswissenschaften manchmal vergisst, dass eine Übersetzung immer nur eine Annäherung ist.
Als bi-kulturelle Deutsch-Französin oder Franko-Deutsche (je nach Perspektive) bin ich durch Theaterarbeiten, Texte und Diskussionen in den Medien tagtäglich mit einer gewissen Übersetzung von Konzepten, Wörtern, Sätzen, Ausdrücken, Gesten und Handlungen von einer Sprache in die andere beschäftigt. Da mir dieser Prozess nicht immer bewusst ist (ich gehöre zu den Menschen, die nicht mehr wissen, in welcher Sprache sie denken …), frage ich mich, ob ich nicht womöglich eine dritte, mir eigene Sprache (oder Sprachen …) spreche, die sich aus Bruchstücken meines früheren und meines jetzigen Lebens sowie aus einer seltsamen Art zu argumentieren, zu sprechen, zu tanzen (wenn wir schon dabei sind) und in dieser Theaterwelt zu arbeiten, zusammensetzt.
Dieser Theaterwelt, die universell zu sein scheint. Doch muss ich feststellen, dass die Ausbildung und die Karriere in der Theaterwelt der Länder, in denen ich arbeite, mich geprägt hat: Meine Vorstellungswelt, meine Konzepte und meine Arbeitsstruktur sind daraus entstanden.
Ich muss mich fragen:
Wenn man über Interkulturalität im Kontext zeitgenössischer Theaterinszenierungen sprechen will, stellen sich mehrere Fragen gleichzeitig: Welche Bedeutungen von «Kultur» und «Interkultur» können dabei verwendet werden, und welches sind die Merkmale und Tendenzen aktueller Inszenierungen?
Was bezeichnen wir in unserem Alltag als Interkultur oder interkulturelle Kommunikation?
Ist es die Sprachbarriere oder die Begegnung mit fremdartigen Sitten und Gebräuchen?
Handelt es sich dabei um einen tiefgreifenden Konflikt oder lediglich um Unterschiede zwischen Individuen?
Oder ist damit gar der Integrationsprozess gemeint, der die Kommunikation mit Menschen einschließt, die aus einem anderen Land kommen?
Was ist Kultur, abgesehen von ihrer offensichtlichen Bedeutung als «Gesamtheit der kulturellen Ereignisse in einer Gesellschaft»? Und wenn sich die Grenzen der Interkulturalität nicht so einfach definieren lassen, wie kann man sie dann beschreiben?
In welchem Verhältnis steht das Künstlerische zu diesem beschreibbaren Teil der Interkulturalität?
An der künstlerischen Gestaltung einer Aufführung sind immer Menschen mit einem kulturellen Hintergrund beteiligt, d. h. mit Regeln, Codes, Symbolen und Werten.
Im Dictionnaire du Théâtre (Pavis, Patrice, 2004) wird vermerkt:
«Interkulturelles Theater kann nicht als etabliertes Genre oder klar definierte Kategorie bezeichnet werden, sondern bestenfalls als ein Stil oder eine Spielpraxis, die für verschiedene kulturelle Quellen offen ist. Es handelt sich also um eine Tendenz, eine sich entwickelnde Bewegung, die eher die Praxis der Inszenierung oder der Spielformen im Westen und anderswo betrifft als das dramatische Schreiben, bei dem es viel schwieriger ist, die verschiedenen ethnischen oder kulturellen Einflüsse nachzuvollziehen.»
Wo stehen wir heute?
Seit 15 Jahren bemüht sich das Festival Primeurs darum, öffentlich die Frage nach der Übersetzung von geschriebenen Werken und ihrer Inszenierung durch Künstler:innen, die in der jeweils anderen Sprache arbeiten, in einem deutsch-französischen Kontext zu stellen.
Anscheinend sind für das sogenannte «Texttheater» Inszenierungen zeitgenössischer Texte von besonderer Bedeutung: Sie verraten uns etwas über unsere stets im Wandel begriffenen Gesellschaften, über neue Tendenzen und aktuelle Fragestellungen. Vermutlich geht es unter anderem darum, die Beschäftigung von Schriftsteller:innen mit ihrer Kultur und der «modernen» westlichen Kultur darzustellen und hörbar zu machen: Darin liegt neben einer Beobachtung eine Mischung aus Affirmation und Infragestellung dessen, was «normal» zu sein scheint.
Welche «interkulturellen» Einflüsse gilt es also zu berücksichtigen? Und für wen?
Da der Text der Ausgangspunkt für eine Inszenierung und parallel dazu für die Arbeit eines künstlerischen Teams ist, kommt seiner schriftlichen Übersetzung (oder «Übertitelung») eine besondere Bedeutung zu. Das Bedürfnis, einen Text nicht zu «verraten» oder ihn dazu zu bringen, etwas zu sagen, was er nicht sagen wollte, und dabei alle spürbaren Feinheiten und Paradoxien zu respektieren, kann sich als eine ziemliche Herausforderung erweisen.
Als konzeptuelle Strukturen, die mit dem Aufkommen von Nationen und ihren festgelegten Territorien entstanden sind, scheinen mir Kulturen derzeit unter dem Einfluss eines beschleunigten Austauschs von Gütern und Nachrichten zu stehen: Im Zeitalter der immensen Möglichkeiten des Internets und des schnellen Austauschs scheinen sich alle Kulturen einander anzunähern und zu vermischen.
Für eine sinnlich erfahrbare kollektive Kunst, als die das Theater sich zu verstehen scheint, kann es keine vollständige Verschmelzung geben. Jedes dargestellte Ding trägt bereits seine eigene Infragestellung und Perspektivierung in sich. Gleichzeitig stellt sich die Realität des Theaters als Live-Kunst der Unmittelbarkeit und Schnelligkeit von Vermischungen entgegen: Es existiert eine bestimmte Zeit lang für ein bestimmtes Publikum (oder eine bestimmte Gruppe von Zuschauer:innen).
So scheint es mir, dass alles was gesagt oder getan wird, vor Zeug:innen und in Beziehung zu ihnen gesagt oder getan wird. Es gilt, Entscheidungen zu treffen, sich zu positionieren und die Grenzen zu akzeptieren, die Raum, Zeit und Körperlichkeit vorgeben. Dadurch scheinen die Worte wieder zu dem zu werden, was sie sind: Bedeutungsvehikel, von denen man nie weiß, ob sie die gewünschten Bilder erzeugen.
Die Ungewissheit, der Zweifel und die ständige Veränderung von Handlungen und Verständnissen werden wieder zur Realität. Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund der Elemente, die das, was wir «Kultur» nennen, bilden oder beschreiben, ist die Übersetzung von Theatertexten ein endloser Prozess, wobei jede Übersetzung ihrer Zeit, ihren Fragen und ihren blinden Flecken verhaftet ist.
Dabei entsteht folgendes Bild: Übersetzungen sind Ausgangspunkte für Inszenierungen, die wiederum Ausgangspunkte für die Interpretation durch Schauspieler:innen sind, die in ein evolutives Werk münden, das wiederum einem vielgestaltigen Publikum Ausgangspunkte für Neuinterpretationen bietet.
Was für ein zerbrechliches und vergängliches Abenteuer! Doch ist es vielleicht genau diese Zerbrechlichkeit, die es uns (Übersetzer:innen, Künstler:innen und Zuschauer:innen) ermöglicht, uns ein wenig mehr für das Seltsame und das Fremde im ursprünglichen Wortsinn zu öffnen.
Symbole, die nicht unsere (oder meine) sind, Codes und Regeln, die mir fremd erscheinen und zu eigenartigen, faszinierenden Ritualen führen, können mich anziehen, meine Neugierde wecken. Das Interkulturelle, der Zwischenraum zwischen den Kulturen, wird zum Gegenstand des künstlerischen Schaffens und manchmal sogar zu seinem Thema. Was bleibt, sind Frustration und andere Emotionen angesichts des Seltsamen, das sich nicht ausreichend erklären lässt, das nicht ausreichend übersetzt ist, dass sich, kurz gesagt, meinem Horizont an Erfahrungen, Erlebnissen und meiner Komfortzone entzieht. Es wird nicht alles gesagt, es wird nicht alles dargestellt, es ist nicht alles übersetzbar: Darin liegt eine große Chance für alle zukünftigen Versuche künstlerischen Schaffens.
Und daher wird das Ritual des Theaters, ob mit oder ohne Text, hoffentlich nie verschwinden.
[1] Verlan ist eine in der französischen Jugendsprache verbreitete Spielsprache, in der die Silben umgekehrt werden. Sie ist heute besonders in den als soziale Brennpunkte geltenden französischen Vorstädten gebräuchlich. Der Titel von Eva Doumbias Stück «Le Iench» spielt mit der Verlanform des Worts «Chien» («Hund»). Als deutschen Titel wählte die Übersetzerin Akila Silke Güç lediglich den Namen der Hauptfigur «Drissa», da das sprachliche Prozedere des Originals nicht übertragbar erschien. (Anm. d. Red.)
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