Ein Interview mit dem Übersetzer Frank Heibert «Literaturübersetzen ist keine Naturwissenschaft, sondern eine Kunst.»

Szene aus der Inszenierung «1984» von Luk Perceval am Berliner Ensemble, in der Neuübersetzung von George Orwells Roman durch Frank Heibert (Foto: Jörg Brüggemann)

Mit über 100 Roman- und rund 120 Theaterübersetzungen aus vier Sprachen gehört Frank Heibert nicht nur zu den produktivsten, sondern auch zu den profiliertesten Vertretern seiner (unserer) Zunft. Seit seinen ersten übersetzerischen Gehversuchen begleitet die theoretische Reflexion über Arbeitsweisen und Methoden sein Schaffen. Mit Frank Weigand sprach er über seinen Werdegang, prägende berufliche Erfahrungen, die Frage, ob sich Theater- und Prosaübersetzung unterscheiden, den Wunsch nach mehr Diversität in der Übersetzer*innenschaft und seine Pläne für einen übersetzerischen «Werkzeugkasten».

 

 

Frank Weigand: Lieber Frank, wie bist du überhaupt zum Übersetzen gekommen?

Frank Heibert: Es gab zwei Erfahrungen in meiner Kindheit, die mir die Wichtigkeit von Übersetzung klar gemacht haben. Die eine mit sieben, als wir aus Essen in Nordrhein-Westfalen in den Odenwald gezogen sind, in ein 700-Seelen-Dorf. Meine Mutter verstand beim Einkaufen nicht, was die Frau im Laden sagte, und meine Schwester und ich haben dann das Hessisch für sie übersetzt, so gut es ging.

Die andere war mit vierzehn, da hatte ich gerade ein Jahr Französischunterricht in der Schule gehabt: Das Dorf, wo wir inzwischen wohnten, hatte eine Städtepartnerschaft mit einem kleinen normannischen Badeort, und irgendwann wollte eine Delegation aus unserem Kaff da hinfahren. Bloß stellte sich heraus, dass im ganzen Dorf kein Mensch Französisch konnte. Also fuhr ich in völliger Selbstüberschätzung und sonniger Naivität mit dem Bürgermeister und dem Posaunenchor mit und habe tatsächlich versucht, irgendwie zu dolmetschen. Die fanden das natürlich alle furchtbar süß. Nach dem Konzert des Posaunenchors hab ich für die Jungs – es war ein rein männlicher Posaunenchor – die ganzen Rendezvous klargezogen, zwei davon haben noch ein Jahr lang Liebesbriefe geschrieben, die habe ich dann auch übersetzt. Die klangen zum Teil so, dass ich gedacht habe, das kann ich nicht so übersetzen. Es ist so billig und platt, das muss ich ein bisschen variieren, damit es wirkungsäquivalent wird.

Meine erste eigentliche Übersetzung habe ich an der Uni im Studium gemacht, wir lasen einen französischen Text, der mich berührte, nämlich «Alexis» von Marguérite  Yourcenar. Und den gab es auf Deutsch nicht. Es gab eine Übersetzung aus den 50ern, die war aber nicht in der Bibliothek. Also dachte ich, weil mein Freund damals nicht Französisch konnte und ich wollte, dass er das lesen kann, ich schenke ihm das zum Geburtstag. Drei Monate lang hab ich die gut 100 Seiten nebenbei übersetzt und dann kopiert und zusammengeklebt und mit einem Foto vorne drauf als Cover «produziert». Davon gab es fünf Exemplare. Eines davon haben wir Klaus Völker geschenkt, mit dem wir befreundet waren. Und daraufhin fragte der mich, ob ich nicht bei den letzten Bänden der Boris Vian-Gesamtausgabe von Zweitausendeins mitmachen wollte. Ich meinte: «Weiß ich nicht, ob ich das kann, gib mir doch mal ein, zwei Texte, und dann guckst du, ob dir gefällt, was ich mache, und wenn ja, sehr gerne.» Boris Vian ist ja ein großer Wortspieler. Und natürlich waren da gleich richtige Nüsse in diesen ersten Texten zu knacken. Knapp die Hälfte der Vian-Erzählungen in zwei Bänden bei 2001, das waren meine ersten veröffentlichten Übersetzungen, 1983.

Ein Jahr später gab es ein Seminar in der Romanistik, das sich um Wortspiele drehte, mit zwei Dozenten, einem Linguisten und einem Literaturwissenschaftler. Und als allererstes erzählten die uns, Wortspiele würden sich per Definition dadurch auszeichnen, dass man sie nicht übersetzen könnte. Und ich sagte mir: «Moment, das kann doch nicht sein. Das habe ich doch gerade gemacht. Ich habe doch was gefunden. Also stimmt da irgendwas nicht.» Daraus wurde dann Jahre später meine Magisterarbeit und meine Doktorarbeit über Wortspiele.

Frank Heiberts erste, unveröffentlichte Übersetzung, «Alexis» von Marguerite Yourcenar, 1982 (Foto: privat)

Welche Übersetzungen haben dich im Lauf der Jahre besonders geprägt?

Eigentlich diejenigen, wo ich am Anfang dachte, oh wow, das kann man eigentlich nicht schaffen. Die, wo es etwas scheinbar Unübersetzbares gab. Das man erst mal richtig geknackt kriegen musste. Die haben mich richtig herausgefordert. Ich durfte viele sehr schöne Bücher machen, die kein solches Problem hatten, die mich dann auch weniger geprägt haben.  Aber was mich wirklich weitergebracht haben, waren dann solche. Don De Lillos «Unterwelt» zum Beispiel. Und die Queneaus natürlich.

Und vielleicht hat mich auch noch eine andere Erfahrung geprägt: Ich habe ziemlich am Anfang für den Alexander Verlag eine Reihe mit Theatertheoretikern übersetzt. Etwas von Jerzy Grotowski, von Peter Brook und Lee Strasberg.  Und dann war da noch ein Buch dabei, was ich eigentlich nicht gut fand. Ich habe tatsächlich vergessen, von wem es war und was es war.
Ich fand es nicht gut. Ich habe es aber trotzdem gemacht, weil ich dachte, die Liste meiner Übersetzungen muss länger werden. Und ich habe mich damit herumgequält. Der Lektor fand es scheiße. Wir haben uns gestritten. Es war einfach nur furchtbar. Da war ich 26. Und da habe ich mir geschworen, ich werde nie wieder etwas übersetzen, wovon ich nicht überzeugt bin. Bei diesem Buch habe ich meinen Namen zurückgezogen.

US-amerikanische Schwergewichte: Don De Lillo und Richard Ford (Foto: privat)

Du bist einer der wenigen Übersetzer in Deutschland, die in gleichem Maße Theater und Prosa übertragen. Wie bist du denn mit dem Theater in Kontakt gekommen?

Im Grunde auch wiederum sehr biografisch, denn der Freund, mit dem ich damals und dann insgesamt 17 Jahre lang zusammen war, war Theaterkritiker. Ich war also über Jahre hinweg «Premieren-Gattin», die ganzen 80er-Jahre hindurch. Als ich in Paris war, während meiner Doktorarbeit, habe ich von dort auch Kritiken für Theater heute geschrieben. Ich habe einiges vom Theaterbetrieb mitbekommen, weil es auch ein paarmal darum ging, ob ich «auf die andere Seite wechsele», sprich in die Dramaturgie. Wir waren z.B. mit einem Regisseur befreundet, der sich für eine Intendanz bewarb, da war ich tatsächlich als Dramaturg kurz mit im Team.

Theaterübersetzer wurde ich 1985 dank Bernard-Marie Koltès und Heiner Müller. «Combat de nègres et de chien» gab es ja für den deutschsprachigen Markt «Deutsch von [dem nicht Französisch sprechenden] Heiner Müller auf Grundlage einer Übersetzung von [der weniger bekannten Elsässerin] Maria Gignoux-Prucker». Das war nicht anderes als eine vermüllerte Interlinearübersetzung, die ich in Theater heute ziemlich auseinandergenommen habe, und als Reaktion bekam ich unter anderem Theaterübersetzungen angeboten, als erstes den französischen Dramatiker Philippe Minyana. So ging das los.

Anfang der 90er habe ich ein Stück zusammen mit Theaterfreunden aus Amerika, aus Atlanta, ins Englische übersetzt. Das war «Carmen Kittel» von Georg Seidel, ein tolles «Arbeiterstück» aus der späten DDR, das haben die an ihrem Theater mit zum Teil Schwarzer Besetzung gemacht, also richtig gut übertragen in ihren eigenen Kontext. Da war ich beim ganzen Prozess dabei.

Aber irgendwann wurde mir klar, dass ich auf keinen Fall am Theater arbeiten will. Dramaturgie war mir ein bisschen zu weit weg, weil die ja auch immer nur von einer Seitenlinie irgendwas zuliefern und weniger selbst künstlerisch tätig sind. Letztlich fand ich die Welt des Theaters ein bisschen zu inzestuös. Man redet sich gerne in eine künstliche Ekstase rein, man will die Welt neu erfinden, je später die Nacht, desto besser weiß man, wie es geht, und desto weniger hat es eigentlich letztlich mit der Welt zu tun. Und dafür bin ich zu sehr mit beiden Beinen auf dem Boden. Ich bin auch ziemlich eigensinnig, da war es besser, unabhängig als freischaffender Selbstausbeuter das mit dem Übersetzen voranzutreiben.

Szenenfoto aus Simon Stones Inszenierung von Tony Kushners «Engel in Amerika» am Münchner Residenztheater, Übersetzung: Frank Heibert (Foto: Birgit Hupfeld )

Aber du hast dann trotzdem Theater übersetzt?

Auf jeden Fall, weil das einfach spannende Texte sind und weil es auch ein bisschen was Anderes ist als Prosa. Da es in Deutschland relativ unüblich ist, die Theaterübersetzer in den Probenprozess mit einzubeziehen, passiert es tatsächlich auch fast nie. Man wird mal angerufen oder kriegt mal eine Mail und darf dann gerne zur Premiere kommen, wenn überhaupt. Und dann guckt man sich das Ergebnis an und stellt womöglich fest: Da ist ein Drittel von mir, ein Drittel von denen und ein Drittel gestrichen. Es gab Fälle, da wollte ich bei der Hälfte dessen, was von der Bühne kam, aufspringen und schreien: Das ist nicht von mir. Kann passieren – eine Theaterübersetzung ist eben nicht das fertige Werk, sondern «nur» die Vorlage für das, was die Vertreter*innen der Darstellenden Künste draus entwickeln.

Ich komme ja vom Theater und habe in den letzten Jahren hin und wieder Ausflüge in die Prosa gemacht. Dabei hatte ich das Gefühl, das übersetzerische Selbstverständnis ist dort ein ganz anderes. Es geht mehr darum, als Person, als deutsche Stimme einer Autorin/eines Autors gesehen und auch anerkannt zu werden, während ich mich im Theater sofort als Teil eines Prozesses sehe, in dem ich eine Rolle unter vielen spiele und dem ich mich als Stimme durchaus unterordnen kann. Siehst du das ähnlich oder ist das lediglich mein subjektiver Eindruck?

Ich denke, bei Autoren, die man in ihrem Theater-Stil immer wieder erkennt – die sich also nicht dadurch auszeichnen, dass sie Figuren ganz verschiedene Stimmen geben und sich darin chamäleonhaft wandeln können – sondern bei Leuten wie Fosse, wo man einfach sagt, okay, den erkennt man sofort wieder, da ist es schon nicht falsch zu sagen, dass der Übersetzer dann auch «die deutsche Stimme» ist, weil er mit seinem Sound für diese Originale eine Wiedererkennbarkeit produziert. Bei Autorinnen ohne starke stilistische Wiedererkennbarkeit ist zwangsläufig auch die Übersetzung nicht so prägnant charakteristisch, dass ich mich darüber als «deutsche Stimme von x» definieren müsste. Aber es geht eigentlich um einen anderen Punkt.

Wir haben im deutschsprachigen Raum eine Theaterkultur, wo nachgespielt wird. Es muss also erst mal eine verbindliche Fassung geben, mit der die Theater dann arbeiten, wohingegen ja in Québec oder auch in anderen Ländern ein zeitgenössisches Stück einmal produziert wird, dann geht die Aufführung vielleicht auf Tournee, wenn es gut läuft, und das war es dann. Da muss man die Übersetzung nicht für die Ewigkeit machen, sondern für genau dieses Konzept und diesen Regisseur, diese Regisseurin. Dann ist es auch nachvollziehbarer, wenn ich während der Proben umschreibe, die Übersetzung den jeweiligen Konzepten anpasse, wie ich es hierzulande eher nicht machen würde.

Solange ich im deutschsprachigen Raum übersetze, würde ich mich darum bemühen, eine Grundlage vorzulegen, mit der die Regisseur*innen genau so viel anfangen können, wie sie damit anfangen könnten, wenn sie das Originalstück gut verstehen würden. Das heißt für mich auch, dass ich beim Übersetzen vermeiden muss, da reinzuinszenieren – was im Fall einer Übersetzung, die im Probenprozess entsteht, dann Regie bzw. Dramaturgie ja durchaus tun würden.

Szenenfoto aus «Der Gott des Gemetzels» von Yasmina Réza, Regie: Tristan Linder, Schauspiel Köln, Übersetzung: Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel (Foto: Krafft Angerer)

In den Theaterverlagen habe ich auch mit verschiedenen Persönlichkeiten von Lektoren und Lektorinnen zu tun. Die einen orientieren sich, ähnlich wie im Prosalektorat, erstmal daran, was im Original passiert. Und es gibt auch andere, die sehr genau wissen, was an deutschsprachigen Theatern im Moment gut funktioniert, was es diesem Stück leichter oder schwerer machen könnte, und das hat einen gewissen Einfluss auf das Textlektorat. Ich rede überhaupt nicht über grobe Eingriffe, aber wenn ich einen Autor habe, der vielleicht zu einer gewissen Geschwätzigkeit neigt, die sich durchaus als ästhetisches Konzept für seine Figuren legitimieren lässt, kann ein Verlag sagen, dann machen wir das genauso, das ist halt dieser Autor, und ein anderer könnte sagen, das, worum es ihm wirklich geht, die Substanz seines Schreibens, die wird durch die Geschwätzigkeit nur verwässert, also verdichten wir das ein wenig, dann hat es auch viel mehr Chancen auf dem hiesigen aktuellen Markt. Wenn das gut argumentiert und gut dosiert ist und das Original wirklich nicht verrät, lasse ich mich da durchaus überzeugen.

Der Punkt ist und bleibt in allen Fällen: Die Sprache ist einfach ein wichtiger künstlerischer Bestandteil für eine Theateraufführung, (wenn es denn ein Sprechtheaterstück ist). Und nicht nur eine mehr oder weniger vage vorgeformte Knetmasse, aus der wir jetzt ein Schlösschen oder ein Schwimmbad oder einen Bahnhof bauen.

Aber die Sprache ist eben nur ein Bestandteil der Aufführung…

Ja, natürlich. Das ist mir völlig klar und das ist eben auch der spannende Unterschied zur Prosa.

Frank Heibert mit seiner Übersetzung von Raymond Queneaus «Zazie dans le métro» (Foto: privat)

Eine andere Beobachtung, die ich als «Prosa-Novize» gemacht habe, ist, dass mir manchmal vom Lektorat das Poröse vorgeworfen wird, das vielleicht eine «déformation professionnelle» vom Theaterübersetzen ist. Dass ich nicht genug erkläre, oder manche Dinge nicht genug ausgeführt sind. Ich versuche immer noch, zu begreifen, was genau das Problem ist…

Das kommt stark auf den Text an, glaube ich. Es gibt Texte, die sehr viel erklären und die nach den strengen Regeln von «Was ist Literatur? Was ist bessere Literatur?» nicht als beste Literatur gelten, weil genau das Offenlassen für die Fantasie des Lesers und der Leserin, wenn es gut gemacht ist, zu den Qualitätsmerkmalen gehört.

Meiner Meinung nach muss man immer erst mal gucken, ob die Dialoge in der Prosa wirklich realistisch-naturalistisch gemeint und geschrieben sind. Und das können sie sogar sein, wenn die Erzählerstimme einen stärker stilisierten und gar nicht unbedingt naturalistischen Sound hat. Selbst dann unterliegen sie der Fragestellung: «Kann das diese Romanfigur so gesagt haben, ist das plausibel für sie?» Und auch: «Nee, dieses Vokabular hätte die Figur nicht».

Gut geschriebene Prosa gibt das relativ eindeutig vor, so dasss man sich dem anvertrauen kann. Bei nicht so gut geschriebener Prosa bringen Unachtsamkeiten der Autor*innen manchmal eine größere Künstlichkeit und Schriftlichkeit rein, als vielleicht nötig wäre. Mein Ansatz ist: Wenn der Text mir sagt, ich möchte naturalistisch-realistisch sein, also auch die Dialoge, dann übersetze ich auch so. Bei einzelnen Stellen, die weniger so sind, also die schriftlicher oder papierner klingen, ohne dass es dafür einen wirklich erkennbaren literarischen Grund gäbe, würde ich die nicht ohne Not ins Künstliche schieben, wenn das eigentlich nicht zu dem restlichen Text passt.

Aber es gibt Romane, in denen das bewusst anders ist. Ich zitiere nochmal De Lillo, der hat oft Dialoge, und die Figuren sprechen zwar nicht wie die Erzählerstimme, aber sie sprechen teilweise unfassbar künstlich. Ritualisiert, mit Wiederholungen, Sprödigkeiten, Knappheiten, das würde kein Mensch so sagen, und gerade das macht es so spannend und aufregend, weil du damit in eine andere Welt eintrittst. Würde ich da versuchen, das irgendwie ins angenehme, unterhaltsame Normalsprachliche zu bringen, wäre das idiotisch. Und gleichzeitig würde ich damit die Stellen ruinieren, wo er das selber tut, wo einzelne Figuren plötzlich aus der Hüfte irgendeinen total saloppen Satz rausschießen, an genau der Stelle, wo er das will; wenn sie alle schon so naturalistisch reden, würde sich diese Stimme nicht mehr abheben. Kurz, man muss sehr, sehr aufmerksam drauf gucken, was das Original einem abverlangt und vorgibt, dann beantwortet sich diese Frage.

Also siehst du da tatsächlich keinen Unterschied zwischen Prosaübersetzung und Theaterübersetzung?

Nein, eigentlich nicht. Ich muss die etwas größere Offenheit beim Theaterübersetzen im Kopf behalten, dass man nicht jeden Subtext ausbuchstabieren muss, gerade, wenn es das Original nicht tut, was man in der Prosa vielleicht manchmal mehr macht. Aber ich denke, die Prosa macht so etwas auch ein bisschen mehr, weil sie eben nicht dafür geschrieben ist, dass da noch jemand kommt, der dem Ganzen sein Leben (auf der Bühne) einhaucht, sondern sie ist ja allein zum Lesen geschrieben.

Aufregende Weltliteratur: Amos Oz und William Faulkner, übersetzt von Frank Heibert (Foto: privat)

Eine weitere Erfahrung mit Lektoraten im Prosabereich, die ich gemacht habe, war ein seltsamer Sprachpurismus. Manchmal wurde mir allzu starke Mündlichkeit wegkorrigiert, manchmal wurde gar gesagt, ein Satz sei «kein Deutsch». Hast du auch das Gefühl, es gibt in der Literatur noch eher ein Idealbild davon, wie «Sprache» auszusehen hat?
 
Das hängt wirklich von den Lektor*innen ab, mit denen du zu tun hast. Etwas polemisch gesagt, haben vielleicht die weniger erfahrenen oder die ängstlicheren Lektor*innen eine gewisse Vorstellung von einer irgendwie «säuberlicheren» Sprache, nach dem Motto: «Das kann man doch so nicht machen, das sagt man doch so nicht.» Manchmal ist das bei Literatur aber genau der Punkt – etwas so zu sagen, wie man es normalerweise nicht sagt, wie es vielleicht noch nie gesagt wurde, nicht genau so. Wenn ein Original das tut, muss es die Übersetzung auch erfüllen.

Bereitest du dich auf Theatertexte anders vor als auf einen großen Roman, oder bleibt die Herangehensweise dieselbe?

Bei Theater-Übersetzungen, wenn ich das Gefühl habe, es ist jetzt wirklich psychologischer Realismus, zum Beispiel ein amerikanisches Stück, das als Problemboulevard gilt, also gutes Thema, aber eben eher komödiantisch aufbereitet, dahabe ich mir durchaus mal überlegt: Okay, was unterscheidet die Figuren eigentlich genau voneinander? Und dann habe ich mir kurze Steckbriefe gemacht: Wer sind die und wie reden die, was sagen die bestimmt nicht? So was. Irgendwann lief dieser Prozess schon automatisch ab, da war es nicht mehr nötig.

Wenn ich dagegen einen Text vor mir habe, der deutlich seinen eigenen eher künstlichen, stärker stilisierten Sound hat, dann würde ich eine Stilanalyse machen, damit ich wirklich begreife, was da sprachlich passiert, und auch verstehen kann, was das bewirkt. Die Frage der Wirkungsäquivalenz stellt sich beim Bühnentext noch viel mehr als bei Romanen. Wenn ich ein Stück vor mir habe, auf das die Bezeichnung «Textfläche» passt, dann habe ich ja nicht wahnsinnig viele erzählerische oder psychologische Anhaltspunkte, dann habe ich vor allem mit stilisierter Sprache zu tun. Aber in welcher Weise stilisiert, was macht die aus? Und was für einen Reim mache ich mir da drauf, warum ist das eigentlich so? So eine sprachlich-stilistische Vorbereitung kann es auch geben, das hängt total vom Text ab.

Lesung mit Gesang, zu Raymond Chandlers «Der große Schlaf», am Klavier Tomek Soltys, Literaturhaus Leipzig 2019 (Foto: privat)

Ich finde ja, Wirkungsäquivalenz ist im Theater ein schwieriger Begriff, weil die «fremden» Texte ja auch aus anderen Theatersystemen kommen, die teilweise mit ganz anderen Konventionen arbeiten. Zum Beispiel ist im deutschsprachigen Raum das total literarische, französische Theater nur schwer von der Wirkung her übertragbar.  Wenn da auf der Bühne eine extrem künstliche, anti-realistische Sprache gesprochen wird, ist das gar keine Übertretung, da das französische Publikum es ja so gewohnt ist.

Das passt durchaus zu meinem Verständnis von Wirkungsäquivalenz. Dadurch, dass es im Französischen nicht wie eine Übertretung wirkt, darf ich im Deutschen nicht etwas so Hochstilisiertes produzieren, dass es einem als unglaublich steif und künstlich entgegenwackelt (also wie eine Übertretung), sondern ich muss gucken, dass ich zwar die formale Stilisierung erhalte, weil das Original sie vorgibt, also eine rhetorische Überhöhung, aber das Publikum muss sie auch relativ gut aufnehmen können, sofern das im Französischen auch so funktioniert – das muss die deutsche Übersetzung so wirkungsäquivalent wie möglich auch leisten. Wenn der Text im Französischen bewusst so geschrieben ist, dass er einen überwältigen will mit seiner Wucht und rhetorischen Gestaltung, wie bei Valère Novarina oder Pierre Guyotat oder so, dann ist die angestrebte Wirkungsäquivalenz die, dass einen das im Deutschen gefälligst genauso plattwalzen soll.

Wirkungsäquivalenz ist ja letztlich immer ein Spiel mit der eigenen Interpretation und mit all dem Spekulativen, was da mit drinhängt. Keiner kann behaupten, es ließe sich «objektiv» herausfinden, wie das quasi auf einen empirischen Durchschnitt von Originalzuschauern gewirkt haben könnte, das wäre Quatsch. Jede Übersetzung ist Interpretation, auch Interpretation der Wirkung, und jeder Übersetzer, jede Übersetzerin interpretiert ein Spürchen anders, weil jeder und jede ein anderes Individuum ist. Das ist eine Grundlage der Kunst, die man nicht jedes Mal wieder neu legitimieren muss. Aber wenn man das als Einschränkung dieses so absolut klingenden Begriff von Äquivalenz von vornherein mitdenkt, dann ist für mich der Begriff der Wirkungsäquivalenz tauglich und fruchtbar: Anhand der Wirkung, die ein Original auf mich hat, rechne ich hoch, welche Wirkung ich auf meine Leser:innen anstrebe. Das tun wir alle. Darum ist Literaturübersetzen ja keine Naturwissenschaft, sondern eine Kunst.

Vortrag über Übersetzungskritik bei der Tagung des Schriftstellerverbands, Sankt Gallen 2021 (Foto: privat)

Du bist seit langen Jahren auch als Pädagoge unterwegs und gibst Dein übersetzerisches Wissen weiter. Was lässt sich in diesem Beruf erlernen, und was willst du Menschen mitgeben, die irgendwann vom Übersetzen leben möchten?

Die pädagogische Arbeit ist, glaube ich, ein relativ natürlicher Ausfluss der Tatsache, dass ich schon immer dieses theoretisch begleitende oder zumindest abstrahierend begleitende Interesse am Übersetzen hatte.  Irgendwann diskutierst du mit Kolleginnen und Kollegen darüber und willst die Dinge besser auf den Punkt bringen. Oder ich saß in Workshops und dachte: Puh, hier geht alles durcheinander. Alles beißt sich an jedem Satz 20 Minuten lang fest, es gibt überhaupt keine Struktur und keine Kriterien, und alle sagen, was ihnen so einfällt, was ja auch wunderbar ist, nur, am Ende kommst du raus und denkst: Okay, irgendwie geht alles, und die Frage, warum das Eine vielleicht besser geht als das Andere, ist reine Geschmackssache.

Das stimmt aber nicht, davon bin ich fest überzeugt. Sondern es gibt tatsächlich methodische Wege, mit deren Hilfe man präziser reden kann, mit Kriterien, nach denen sich darüber argumentieren lässt, ob und warum eine Übersetzungslösung überzeugender ist.

Ich glaube, was man weitergeben kann, was ich jedenfalls sehr gern weitergebe, sind die Analyse-Instrumente, die einen ganz praktisch auf das konkrete Neuschreiben beim Übersetzen vorbereiten, und diese Vorbereitung findet beim Lesen, beim Auswerten, beim Close Reading des Originals statt. Dieses Close Reading sollte einem ja alles mitgeben, was man braucht, um sich dann hinzusetzen und das Ding neu zu schreiben. Beim Neuschreiben kann man vielleicht vor bestimmten Wegen oder Entscheidungen warnen, weil sie erfahrungsgemäß weniger gut funktionieren, aber man kann nicht sagen: Genau so geht’s. Da pflege ich immer zu sagen: Wir können wirklich nur auf unsere eigenen guten Ideen kommen und nicht auf die guten Ideen der anderen.

Seminar Québecfranzösisch 2019, Montréal, Maison de la Littérature, Moderation des Abschlussabends mit Teilnehmerinnen Sonja Finck und Jennifer Dummer und ihren Autor*innen (Foto: privat)

Es geht also um ein präzises Instrumentarium?

Genau. Das hat sich über die Zeit für mich immer mehr vervollständigt, und es baut auf einigen Grundfragen und Grundbegriffen auf. Man hört oft, du kannst über Literaturübersetzen eigentlich nichts Allgemeines sagen, weil jeder Text anders ist. Da ist natürlich was dran. Deshalb formuliere  ich es anders. Auf der allgemeinen Ebene kann man durchaus sagen, dass die Fragen, die sich beim Literaturübersetzen stellen, immer dieselben sind. Die Antworten gibt jeder Text, und weil jeder Text anders ist, sind es eben jeweils andere Antworten. Aber die Fragen erstmal klarzukriegen, wie die untereinander zusammenhängen  und inwiefern es hilfreich ist, diese Fragen für sich einigermaßen klar und argumentierbar zu haben, darum geht es. Im Vergleich dazu ist es schon was Anderes, sich im binnenlogischen Blindflug intuitiv durch den Text durchzunavigieren. Ich bin leidenschaftlich davon überzeugt, dass man dazu was sagen kann, was sich auch weitergeben lässt, was man lernen kann. Ich habe auch schon die Erfahrung gemacht, dass das im Verlauf von Seminaren wirklich spürbar wird.

Was mein eigenes Übersetzen betrifft, muss ich sagen, dass ich tatsächlich bei fast jedem scheinbaren Unübersetzbarkeitsproblem mithilfe dieses Instrumentenkastens relativ schnell weiß, wo ich suchen muss und dann auch gezielter suchen kann. Das bringt mir mehr, als lediglich zu hoffen, dass mich die Muse küsst. Denn wenn die nicht weiß, wo sie hinküssen soll, dann tut sie es auch nicht.

Ich nehme an, du bist dann auch keiner von den Übersetzern, die sich von dem Buch überraschen lassen wollen, das sie gerade übersetzen, es also nicht zuvor gelesen haben?

Das kommt darauf an. Wenn ich das sechste Buch von Richard Ford übersetze und es ist wieder der Ich-Erzähler Frank Bascombe, dann kenne ich den Sound. Dann muss ich es nicht ganz gelesen haben. Ich lese rein und gucke stichprobenhaft, ob diesmal was anders läuft. Bei dem letzten Ford habe ich tatsächlich gemacht, und das war auch ganz gut so.

Aber in der Regel mache ich es natürlich, und wenn es sich um für mich neue Autor:innen handelt, nehme ich die erst an, wenn ich das Buch durchgelesen habe. Ich habe schon Bücher angeboten bekommen, wo ich beim Lesen nach 20 Seiten merkte, erstens ist das ein toller literarischer Text und zweitens komme ich nicht rein, der Text macht bei mir keine Türchen im Gehirn auf, ich habe keine Sprache dafür.
Bei anderen Büchern fängt mein Gehirn ab Seite 10 schon an, ungefragt Wörter und Teilsätze auszuspucken wie auf einer Synchronspur; dann weiß ich, okay, das ist mein Ding.

Frank Heibert mit Richard Ford und dessen Frau Kristina in Paris (Foto: privat)

Was sind denn Gründe, aus denen Du eine Übersetzung ablehnen würdest?

Der Hauptgrund für mich, etwas abzulehnen, wäre, wenn ich denke, dafür habe ich wirklich keine Sprache. Und zwar in aller Demut. Es ist wie bei Schauspielern, die vielleicht viele verschiedene Rollen spielen können, aber eben nicht alle. Und je mehr sie das wissen, desto besser wird ihre Arbeit, hoffentlich.

Dann gibt es natürlich inhaltliche Gründe. Wenn ich finde, dass eine Geschichte auf eine Weise erzählt wird, die ich abgeschmackt oder inakzeptabel oder meinetwegen auch politisch sträflich finde, dann mache ich das nicht. Wobei das so simpel auch nicht ist. Es gibt natürlich auch Texte, wo man mit dem Autor, der Autorin nicht unbedingt seinen Frieden machen kann.Im Extremfall: Ist das eine rassistische oder antisemitische Hassschrift?  Die würde ich nicht übersetzen.

Aber gerade eben habe ich zum Beispiel Curzio Malaparte neu übersetzt, «Die Haut», aus dem Italienischen, das Buch ist gerade erschienen. Der ist ja durchaus auch jemand, der ganz schön rumgiftet. Er war politisch schillernd, ist eigentlich mit allen ins Bett gegangen, um es mal so zu sagen. Zwei Kapitel darin sind von einer so galoppierenden Homophobie, dass ich, als ich das zum ersten Mal las, das Ding in die Ecke schmiss, ich konnte nicht weiterlesen, weil mir das Angst gemacht hat damals, als junger Schwuler im Jahre 1982.

Das war heute nicht mehr so. Inzwischen hatte ich keine Angst mehr davor. Es hat mich eher ein bisschen amüsiert und ich habe meinen Zugang über das Ich als Erzählerfigur gefunden; das Buch ist ja so eine Art von Mischung aus Memoir und Roman, damit spielt er auch, legt einen auch gerne ein bisschen rein. An einzelnen Stellen kann man ihn wirklich in seiner Menschlichkeit wahrnehmen und sieht sozusagen seine nackte Seele. Und da ist er berührend und glaubwürdig. Das habe ich für mich als Kern dieses Buchs genommen, als Ausgangspunkt, um von da aus alle anderen Auswüchse dazu ins Verhältnis zu setzen. Und so konnte ich diese Figur auch in ihrer Tragik, ihrer Ungerechtigkeit, ihrer Blindheit verstehen und schließlich übersetzerisch damit umgehen.

Abgesehen davon ist der Text sprachlich-literarisch ein Feuerwerk auf den verschiedensten stilistischen Ebenen, deshalb zählt er ja auch zur Weltliteratur.

Szenenfoto aus Simon Stones Inszenierung von Tony Kushners «Engel in Amerika» am Münchner Residenztheater, Übersetzung: Frank Heibert (Foto: Birgit Hupfeld)

Wir haben uns vor ein paar Wochen bei der Jahrestagung des VdÜ getroffen. Bei allen individuellen Unterschieden kann man feststellen, dass es sich insgesamt um eine relativ homogene Gruppe weißer Menschen aus ähnlichen sozialen Milieus handelt. Natürlich lässt sich viel über diskriminierungssensible Sprache lernen, lässt sich viel recherchieren – aber die Grundproblematik, dass die Übersetzer*innenschaft keineswegs so divers ist wie die Gesellschaft, in der wir leben und der wir Geschichten erzählen, bleibt. Was ist deine Haltung dazu? Wie sollte sich die Branche verändern – und sollte sie das überhaupt?

Ich will mal die verschiedenen Ebenen, die das Problem für mich berührt, nacheinander durchgehen. Erstens, die politische und gesellschaftliche Teilhabe im antidiskriminatorischen Sinne ist ganz klar ein wichtiges politisches Ziel. Dafür sollten wir uns alle einsetzen, hier kann man tatsächlich sagen, okay, in der Welt des Literaturübersetzens ist die Diversität der Gesellschaft noch nicht abgebildet. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Ich glaube, sie ist es nicht nur, weil der Betrieb alle nicht stromlinienförmig weißen Menschen von vornherein ausschlösse. Das kann im konkreten Fall immer auch mitspielen (inhärenter, unbewusster, aber doch existenter Rassismus ist nie auszuschließen), aber ies gibt sicher auch andere Gründe. Das fängt allein schon mit der nicht zufriedenstellenden Bildungsteilhabe an, der mangelnden Chancengleichheit in der Ausbildung insgesamt. Da gibt es ja in Deutschland und vielen anderen Ländern immer noch absolute Schieflagen. Dadurch werden da schon viele Weichen dafür gestellt, dass sich jemand womöglich für so eine Karriere gar nicht interessiert.

Es darf einfach überhaupt kein Argument sein, einer Person das Literaturübersetzen weniger zuzutrauen, weil sie nicht mainstream-weiß ist. Es ist ja sowieso schon schwer genug, eine Chance zu bekommen, wenn einen der Verlag noch nicht kennt. Wenn für einen Auftrag Probeübersetzungen eingefordert und verglichen werden, weil eine neue Übersetzerin gesucht wird, dann sollten die im Idealfall wie bei einer Blindverkostung geprüft werden. Dann spielen Talent und Qualität die Hauptrolle, und wer gut ist, bekommt seine Chance.

Aber dann kommen wir zu der Ebene, wo die Diskussion wirklich komplex wird. «Legitimität» ist ein Stichwort, das andere lautet «Einfühlungsweg». Genauer: Inwieweit kann ich mich in eine Geschichte, in eine Erzählerfigur, in einen Kontext, einen soziologischen Kontext, einen autobiografischen oder biografischen Kontext einfühlen, der halt erstmal nicht meiner ist? In welchen Fällen könnte das illegitim werden? Dazu gibt es von unserer Kollegin Olga Radetzkaja einen tollen Essay auf TOLEDO, «Alle sein», in dem sie klar sagt, genau wie auch beim Schauspiel darf es da eigentlich keine Verbote geben, prinzipiell macht das genau unseren Beruf aus, dass wir uns mit etwas «Fremdem» in einer Weise auseinandersetzen können, dass wir es rüber- und nahebringen können, uns selbst und auch den Leser*innen.

Französisches: Boris Vian und Marie Darrieussecq (Foto: privat)

Verkürzte Einfühlungswege in die Welt eines Romans, weil man schlicht Gemeinsamkeiten hat, weil man Dinge nachvollziehen kann, sind dabei oft nützlich. Aber das ist kein Automatismus, und es sollte auch kein automatisches Kriterium für die Auftragsvergabe sein. Es kann ein wichtiges Kriterium sein, absolut, im Einzelfall auch ein entscheidendes. Aber kein automatisches, denn das führt im Gegenzug zu Verboten, und damit hätte ich dasselbe grundsätzliche Problem wie Olga. Nehmen wir an, es geht in dem Roman um eine Abtreibung, vielleicht kann sich eine Frau, die sich schon mal mit dem Thema Schwangerschaft eingehender beschäftigt hat, da besser einfühlen und dann vielleicht auch bessere Worte dafür finden, die dem entsprechen, wie das Original Worte dafür gefunden hat; da hätte ein männlicher Übersetzer vielleicht Skrupel, den inneren Konflikt der Geschichte zu sehr von außen zu betrachten (ich beschränke mich jetzt auf die vergröbernde Binarität dieses angenommenen Beispiels).

Oder ein konkreter Fall: In einem Roman von Marie Darrieussecq ging es um die Frau-Werdung, die Pubertät, die erste Regel der Protagonistin und ihrer Freundinnen; da war es für mich ein klarer Fall, dass Patricia Klobusiczky den Text übersetzte, nicht ich. Die Autorin ist sehr, sehr gut darin, Körpergefühle zu literarisieren. Da meinte ich, ich würde logischerweise ein bisschen im Dunkeln tappen und versuchen, mich an der Sprache entlangzuhangeln, aber eine Frau, die das natürlich am eigenen Leib erlebt hat, auch wenn sie es vielleicht anders erlebt hat, kann vielleicht schneller einen Bezug dazu aufbauen und die richtigen Worte finden.Das nenne ich einen verkürzten Einfühlungsweg, warum soll man da irgendwelche Umwege gehen. Gleichzeitig ist das auch keine Garantie für irgendwas.

Szene aus „Die Nebenwirkungen“ von Jonathan Spector, inszeniert von Jan Philipp Gloger am Wiener Burgtheater, Übersetzung: Frank Heibert (Foto: Matthias Horn)

Ich glaube, ich hätte einen ziemlich verkürzten Einfühlungsweg zu dem schwulen Weltzweifel und Selbsthass, der Oscar Wildes «De Profundis» prägt, die Schriften aus dem Gefängnis. Das ist mir angeboten worden, ich habe es abgelehnt. Weil das too close to home war, ich wollte da nicht wieder hin, und ich hätte auch keine gute Übersetzung gemacht. Klar kann das für ein Lektorat eine prima Casting-Entscheidung sein, Autor schwul, Übersetzer schwul, da machen wir nichts falsch, da kann keiner meckern. Mach ich auch gern, ich habe durchaus einige schwule Standardautoren übersetzt, aber genauso, wie ich meine Freunde nicht danach aussuche, mit wem sie ins Bett gehen, suche ich auch meine Autoren nicht danach aus. Umgekehrt wäre auch ziemlich bescheuert zu sagen, ich kann mich nicht in eine heterosexuelle Liebesgeschichte oder Sexszene einfühlen.

Kurz, zu sagen, die Übersetzer*innen müssen identitätsmäßig sein wie ihre Autor*innen, weil es nur dann wirklich legitim ist, sie zu übersetzen, alles Andere wäre Aneignung und so weiter, das verkennt ein bisschen, worum es bei Übersetzung überhaupt geht. Übersetzung ist immer eine Form der Aneignung. Wenn ich zu der deutschen Stimme eines Autors, einer Autorin werde, schlüpfe ich in die Haut der Erzählinstanz und blicke durch ihre Augen auf die erzählte Welt und erzähle sie noch einmal, das ist ein Aneignungsvorgang. Umgekehrt ist eine Person, die vielleicht genau dasselbe erlebt hat, wie es im Buch verhandelt wird, deswegen noch nicht unbedingt eine gute Übersetzerin.

Lesung aus den «Stilübungen» von Raymond Queneau, gemeinsam übersetzt und hier 2018 in Bad Mergentheim zusammen mit Lieblingskollege und Ehemann Hinrich Schmidt-Henkel performt. (Foto: Uwe Weil)

Wenn es um kulturelle und identitätsbezogene Besonderheiten geht, muss ich mich auskennen, gar keine Frage. Wenn ich Dinge nicht selber weiß, muss ich sie herausfinden, über Recherche, über Netzwerke, über Gespräche, was immer der beste Weg ist. Und wenn ich merke, es fällt mir schwer, mich in das spezifisch Andere dieses Werks einzufühlen, dann sollte ich es nicht übersetzen. Es gibt viele Diskussionen darüber, die ich alle ernst nehme und die ich keineswegs abtun will. Das Allerwichtigste sollte meines Erachtens letztlich der Text sein.

Das ist aber ein anderes und wie gesagt komplexeres Thema als das gesellschaftspolitische der Teilhabe von möglichst vielen diversen Ausübenden der Kunst namens Literaturübersetzung.

Denn auf dieser Ebene geht es natürlich auch um Machtstrukturen. Und genau die unreflektiert zu verlängern, finde ich dann blöde. Klar, simpel gesagt, kann man es auch so beschreiben: Lektor*innen, die schon länger im Beruf sind, arbeiten natürlich gerne mit den Leuten zusammen, mit denen sie viel Erfahrung haben und wo alles gut läuft. Kann man ja auch verstehen. Die Jüngeren wollen sich ungern die alten Säcke antun und suchen nach Leuten ihrer Generation, mit denen sie einen guten Draht haben. Das ist ja nur menschlich. In der Hoffnung, dass die Jüngeren mehr Übung darin haben, Kultur und Kunst diverser zu sehen und zu denken, wird sich das Teilhabeproblem mit der Zeit schon bessern. Auf der Ebene der Autor:innen ist ja auch schon eine größere Diversität in den Verlagsprogrammen zu sehen.

Was mich selbst betrifft, finde ich prinzipiell, ich als privilegierter, inzwischen klassischer «alter weißer Sack» kann durchaus sagen: Okay, ich habe viele Chancen gekriegt, ich habe viele Möglichkeiten der Teilhabe gehabt, deswegen kann ich auch gut Platz machen. Ich habe ein paar Übersetzerpreise gekriegt, ich bin noch gut im Geschäft und übersetze heute auch nicht mehr 25-jährige Autor:innen, weil mir schon deren Sprache, wenn sie jugendtypisch ist, nicht mehr wirklich zu Gebote steht. Das heißt, jetzt Platz zu machen, ist für mich eigentlich kein Problem. Ich denke ohnehin eher darüber nach, was ich von meiner Erfahrung weitergeben kann und in welcher Form am besten.

Szene aus der Inszenierung «1984» von Luk Perceval am Berliner Ensemble, in der Neuübersetzung von George Orwells Roman durch Frank Heibert (Foto: Jörg Brüggemann)

Ich habe von einigen Kolleg*innen gehört, dass du gerade an einem Buch über das Übersetzen arbeitest.  Wie geht denn die Arbeit voran?

Das ist ja kein Geheimnis, ganz im Gegenteil. Ich sitze da schon viel zu lange dran und habe es immer wieder unterbrochen für die Übersetzungen, die ich machen musste und habe jetzt tatsächlich ein Jahr frei geräumt, um nichts zu übersetzen. Ich habe schon einen sehr spannenden, lukrativen Theaterauftrag abgelehnt, aber ich muss jetzt, auch wenn das Herz blutet, durchhalten und gucken, ob ich das in dem einen Jahr fertigkriege.

Worum geht es genau in diesem Buchprojekt?

Naja, um die Methodik, wie ich es vorhin schon angedeutet hatte. Was kann ich beim Übersetzen für die beiden Phasen des Close Reading und des Überarbeitens an Kriterien in Frageform anbieten, die die Arbeit erleichtern?

Und wenn die sieben oder acht Zentralbegriffe, die es dafür braucht, wirklich gut definiert sind, dann könnte man auch präziser über Übersetzungen reden und argumentieren. Da würde ich gern etwas anbieten, das die gesamte Diskussion im besten Fall weiterbringt.

Zwei von Frank Heiberts US-amerikanischen Lieblingsbüchern: Lorrie Moore und George Saunders (Foto: privat)

Also das heißt, du schreibst jetzt gar nicht nur einen Erste-Hilfe-Kasten für die Kolleginnen und Kollegen, sondern ein Buch für alle interessierten Leser*innen…

Im Idealfall beides. Also die Eier legende Wollmilchsau natürlich. Wer immer sich für Literaturübersetzung als Phänomen und als Kunstform interessiert, wer wissen will, was da eigentlich vor sich geht, wie das überhaupt gehen soll – und wer sich schon immer gefragt hat, wie man das überhaupt beurteilen soll.

Mir wurde einmal in einer Diskussionsrunde über Übersetzung die Frage gestellt «Sind Sie eigentlich ein frustrierter Autor?» Geht es bei diesem Buchprojekt auch darum, etwas zu hinterlassen, was deine eigene originäre Schöpfung ist?

Nein, ich habe ja einen Roman geschrieben und ich möchte auch gern noch einen schreiben. Ich liebe den Roman nach wie vor mit all seinen Anfängerfehlern, die er hatte. Die gewisse Versiertheit im Übersetzen und im Umgang mit Sprache im Übersetzen bewahrt einen nämlich null vor den dämlichsten Anfängerfehlern beim Schreiben. Aber das Bedürfnis ist bei mir durchaus befriedigt. Der Gedanke, wer übersetzt, sei eigentlich frustrierter Autor oder Autorin, ist allerdings ungefähr genauso dämlich. Es sind bei allen Parallelen in der eigentlichen Kunst des  Schreibens schon zwei deutlich verschiedene Prozesse, und übrigens hat ein jeder von beiden auch in sich das Potenzial, absolut befriedigend zu sein.

Das ist doch ein tolles Schlusswort. Ganz herzlichen Dank, lieber Frank.


 

Der Übersetzer Frank Heibert (Foto: Christa Holka)

Frank Heibert, 1960 in Essen geboren, lebt als Übersetzer, Autor und Musiker in Berlin. Während seines Studiums der Romanistik und Germanistik in Berlin verbrachte er längere Aufenthalte in Rom und in Paris und fing schon früh mit dem Übersetzen an, zunächst aus dem Französischen, dann Italienischen, Portugiesischen und Englischen. Seit 1983 übersetzt er Literatur und Theater, vor allem aus dem Englischen und Französischen (Don DeLillo, Richard Ford, George Saunders, William Faulkner, George Orwell, Tony Kushner, Neil LaBute, George F. Walker, Raymond Queneau, Marie Darrieussecq, Boris Vian, Yasmina Reza, Karoline Georges, Michel Marc Bouchard, Jorge de Senza, Curzio Malaparte u.v.a.) und ist auch als Dozent, freier Lektor, Literaturrezensent, Moderator und Organisator von Literaturveranstaltungen tätig. 2006 erschienen sein erster Roman Kombizangen und das Jazz-Album The Best Thing on Four Feet mit ihm als Sänger.

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