Fleur Hyjazi über mythische Elemente im Theater von MarDi Der Nachhall des Mythos
In der 24. Ausgabe der Anthologie SCÈNE erschien die deutsche Übersetzung des Theatertextes «Penthesile:a:s» von MarDi durch Dorothea Arnold und Fanny Bouquet. Nach der erfolgreichen deutschen Erstaufführung in der Regie von Sandra Hüller und Tom Schneider fand im Juni am neuen theater Halle ein Schreib- und Übersetzungsworkshop statt. Gemeinsam mit der Autorin und Dorothea Arnold überschrieben und aktualisierten die Teilnehmerinnen antike Mythen. Ermöglicht wurde die Veranstaltung durch das Bureau du Théâtre et de la Danse des Institut français Deutschland. Die Kulturassistentin Fleur Hyjazi begleitete das zweitägige Geschehen und reflektiert nun in einem kultursoziologischen Text über den produktiven Einsatz mythischer Elemente auf der Bühne.
von Fleur Hyjazi
Die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes «muthos», das sich mit «Erzählung» oder «Fabel» übersetzen lässt, vermischt sich mit der didaktischen Stoßrichtung, die der Begriff ebenfalls besitzt. Aufgrund seines semantischen Verweises auf das «Fabelhafte» wird der Mythos als symbolische Sprachform wahrgenommen, die traditionell in erster Linie mündlich überliefert wird. Im Folgenden soll analysiert werden, inwiefern die Mündlichkeit, die Transformation des Mythos in Klang, die Grundlage für eine dieser Erzählform innewohnende Theatralik bietet.
Der Mythos wird als allgemeine Kulturpraxis wahrgenommen. Seine Entstehung ist auf eine ursprüngliche Form zurückzuführen, die zunächst mündlich rekonstruiert werden muss, bis sie schließlich irgendwann dauerhaft schriftlich festgehalten wird. Der häufig allegorische Aspekt des Mythos ermöglicht es, der Natur durch Götter und Mythen einen Sinn zu verleihen. MarDi und Dorothea Arnold haben für ihren Workshop die Figuren Demeter und Persephone ausgewählt, die einzige Mutter-Tochter-Beziehung in der gesamten griechischen Mythologie, die außerdem aus einem Inzest hervorgegangen ist.
Die Existenz einer solchen sozialen Verbindung setzt im Theater eine sowohl materielle als auch symbolische Unterscheidung voraus. Die neu geschaffene Ordnung ermöglicht eine Transformation der anthropologischen Strukturen und der Beziehung zu einem Anderen/einer Anderen als sich selbst. MarDis Versuch, mythologische Motive zu aktualisieren und wiederzubeleben, zeigt eine Gesellschaft, die nicht unbedingt Gegenstand eines Willens oder eines Begehrens ist. Jede Inszenierung wird hier zum Schauplatz eines Verständnisses von Menschsein, das sich buchstäblich durch die Verbindung mit dem/der Anderen konstituiert, einer besonderen Instanz, die zugleich Verständnis für das Menschsein und dessen Schöpferin ist. Das Theater kann somit als Entschlüsselung dessen, was in der Realität nicht sichtbar ist, als ein Schaffen von Wissen betrachtet werden. Die mehrfach wiederholte typografische Hervorhebung des Ausdrucks «WIR WISSEN» in MarDis Text Penthesile:a:s ist sowohl ein Moment der Offenbarung als auch der Besiegelung einer neuen Beziehung der Menschheit zu anderen Spezies. Der Verlust des Gewohnten wird zu einem Aufruf zum Zusammenleben, zu einem Leben im Einklang mit der Ökologie.
Die Einführung einer familiären Ordnung durch das Monströse, den Inzest, wie zuvor bei Persephone und Demeter, wirft sowohl die Frage auf, ob die Dualität der Geschlechter wirklich die Grundlage zur Zeugung eines Individuums bildet, als auch die Frage danach, ob sich Sprache lediglich durch die Analyse der Beschaffenheit von Texten interpretieren lässt. Das Theater strebt eine Transformation der Formen an: So lässt sich aufzeigen, dass die Umkehrung der Dynamik des Übergangs vom mündlich überlieferten zum schriftlich festgehaltenen Mythos nicht nur den Sinn dieses Übergangs unterläuft, sondern durch die Inszenierung außerdem eine theoretische Duplizität von Identität besiegelt. Dies bedeutet, dass die vielfältigen Lesarten, die MarDi in ihrem Bestreben, Mythos und Gegenwart miteinander zu verbinden, ermöglicht, eine Pluralität von Bedeutungen erzeugen.
Durch die Verwendung von Wortneuschöpfungen wie «Vagina-Geschlecht», «brüll-wimmere» oder eines abgehackten, rhythmisch-poetischen Stils drückt der an freie Verse erinnernde Text ein hermeneutisches und perlokutives Sprachverständnis aus. So beweisen die wiederkehrenden Begriffe «Schweine-Männer», «Kraken-Männer» oder «Blumen-Männer», die auf gegenwärtige soziale Bewegungen in Frankreich anspielen, dass die semantische und generische Trennung zwischen Mensch, Natur und anderen Spezies zunehmend verschwimmt. Allerdings verweisen die Wortneuschöpfungen bei jedem Verständnisversuch auf eine gewisse Unnatürlichkeit: Das Wort ist verständlich, doch klingt es wie ein dissonantes, überraschendes Element. Zunächst kollidiert das Vokabular aus dem Bereich des Mythos mit einem zeitgenössischen Wortschatz, der sich mit den politisch-sozialen Problemen der Beziehung zum/zur Anderen befasst, wie die in dem Stück verwendeten Begriffe «Niedriglöhne», «Enthaarung/Exzision/Schlankheitsdiäten» deutlich machen, bis die beiden Sprachbereiche schließlich zu einer Koexistenz finden. Auch die Thematiken Schwangerschaftsabbruch, Geschlechterbeziehungen und Sexualität sind allgegenwärtig. In MarDis Stück werden Begriffe wie «Adoption», «Abtreibung» und «Opfer» als Rituale genannt, mit denen die Ablehnung der Herkunft und der Beziehung zur Familie und im weiteren Sinne zum familiär Vertrauten ausgedrückt wird.
Diese Dynamik, sich den Anderen/die Andere zu eigen zu machen, betont eine nicht mehr natürliche, sondern soziale Selektion in der Beziehung zu diesem/dieser. Die Betonung des persönlichen Opfers eröffnet ein lexikalisches Feld der Gewalt gegen sich selbst, durch die die Begierde zu einer Prüfung und die Göttlichkeit zu einem Leiden für den/die Anderen wird: Göttlichkeit ist gleich Opfer. Letztendlich wohnt genau dem, was dem menschlichen Streben scheinbar am fernsten liegt[1], in Wahrheit eine Dynamik der Selbstanerkennung inne. Die Beschäftigung mit Monstern impliziert somit, dass es sich bei der Konfrontation mit dem Nicht-Menschlichen um den Versuch handelt, sich mit selbst zu konfrontieren, sich vermittels einer radikal theatralischen Alterität einer Faszination für das Grauen zu stellen, einer Alterität, aus der uns das Theater den einzigen monströsen Ausweg weist, indem es demonstriert, dass sich der Mensch weigert, diese zu erkennen.
Die Interpretation des Mythos erfolgt durch den Nachhall anderer Mythen: Im theatralischen Prozess der Mythologie liegt eine Suche nach der Naturalisierung dessen begründet, was sich in natürliche Realitäten übersetzen lässt. MarDis Methode der Modernisierung und Transposition kann somit unter dem Aspekt der Historisierung gelesen werden, deren Herausforderung darin besteht, im Mythos das zu finden, was einen Moment des grundlegenden Übergangs zwischen unterschiedlichen Machtsystemen symbolisch zum Ausdruck bringt. Das «Blut», das «nicht aufhört zu fließen», weil «noch mal Trojanischer Krieg» stattfindet, löst sich im Laufe des Stücks auf und wird neu gelesen: Krieg und Mord werden zum Ursprung des Lebens, des Lebenszyklus und der Fruchtbarkeit. Durch die Unterscheidung zwischen unerschöpflichem Blut als Zeichen von Krieg, Gewalt und Begierde entsteht eine durchlässige Grenze.
Tatsächlich weist dieser allmähliche Übergang vom Kriegsblut über das Menstruationsblut bis hin zum fleischlichen Blut durch die Behauptung einer Dichotomie zwischen Leidenschaft und Gewalt auf den Weg vom Natürlichen zum Kulturellen hin. Penthesilea, Königin der Amazonen, wird zur Heroldin aller Frauen: Sie vergießt das meiste Blut, sie hat die lauteste Stimme. Hier findet eine Selbstlegitimierung durch die Beziehung zum Körper statt: Die Körperlichkeit wird zu dem, was ein Wesen von einem anderen unterscheidet, es einzigartig macht. Das vergossene Blut ist hier auch das der mater dolorosa, denn es nährt die Natur, wie der Ausdruck «Ich bin die Erste, die die Erde mit meinem Blut durchtränkt» unterstreicht. Ihr Leiden ermöglicht Leben, Erneuerung, ist universell. Durch das Spiel mit der Göttlichkeit verkörpert sie die Figur der totalen Hingabe, zwischen Muttergöttin und weinender Figur.
Die Beschäftigung mit dem Blut setzte sich durch die Entscheidung für die Figuren Persephone und Demeter auch im Workshop fort: Die rote, lebendige, natürliche Flüssigkeit ist zugleich rituell, vertraut und gewaltvoll. Diese scheinbar diametral entgegengesetzten Eigenschaften werfen bei MarDi die Frage nach dem Übergang vom Göttlichen und Mythologischen hin zur Gegenwart und zum aktuellen Zeitgeschehen auf, sowie nach dem Übergang vom Menschlichen zum Unmenschlichen, von der Menstruation zur Demonstration. Es ist einfacher, zu zeigen als zu sagen, einfacher, etwas anzudeuten als es zu betonen: Die Szene wird zu einer Überschreitung der juristischen Bedeutung des Verbrechens, sie ist Transgression[2].
Wie MarDi in der Einführung zum Workshop angedeutet hat, ist es außerdem wichtig, die Mythologie und ihre Figuren in einem Ganzen zu erfassen. Wenn MarDi von «räumlich-körperlichen» Territorien spricht, geht es ihr darum, die Präsenz des Subjekts in der Gesellschaft, des Selbst in einem kollektiven, sozialen Wesen anzuerkennen. In Penthesile:a:s erfolgt die Neuschreibung einer Geschlechterhierarchie mittels einer derben Sprache und verbaler Gewalt. Die Beziehung zum/zur Anderen wird mit einem physischen Vokabular beschrieben: als Mord oder Leidenschaft, Gewalt oder Fleischeslust. Der Ausdruck «Sie waren in der Struktur ihrer Sprache» setzt eine Identität voraus, die sowohl thematisch als auch der Sprache inhärent ist, und kehrt das Verhältnis zur verbalen Gewalt um.
Da die Sprache selbst als sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt verstanden wird, erfordert das soziale und historische Unbewusste der Beziehung zur Sprache einen Prozess der Verkörperung der verdrängten Figur der Geschlechterfragen, wie beispielsweise die Verwendung einer inklusiven Schreibweise als Verlust oder Neufassung traditionell akzeptierter Identitätsmerkmale. In dieser Hinsicht durchläuft die Doppelbewegung der Einschließung des Wesens und der Öffnung der Sprache ein ebenfalls doppeltes Phänomen der Travestie, der Selbstverkleidung und der Verkleidung des Verbalen, der Geschlechter und der Epochen, wie es die Ausdrücke einer aktuellen sozialen Realität unterstreichen: «Und lassen sich operieren, um etwas anderes zu werden» «TAG-UND-NACHT-DRAG-KING» und die folgenden kurzen Repliken, deren Wirkung durch eine rhythmisch-klangliche Steigerung verstärkt wird: «Wir sind anders / Wir sind Menge / Trans-Menge / Menge in Trance / In Transhumanz». Weil «Körper und Sätze sich paaren», ermöglicht der Rückgriff auf die Mythologie im Theater eine räumliche, zeitliche, soziale und politische Vereinigung der Herausforderungen der Ansprache, der Identifikation und des Verständnisses von sich selbst und dem/der anderen.
Da der Mythos einen Rückgriff auf das Fantastische, auf das dual Phantasmagorische voraussetzt, wird die Zerstörung des Wirklichen durch den Umweg über die Mythologie gleichzeitig zu Konstruktion und Schöpfung. Zwar ist das traumatische Ereignis symptomatisch für eine mythologische Erzählung, doch bringt es eine übertragbare Dimension hervor, die es zeitlos macht. Die Inszenierung einer aktualisierten und übersetzten Mythologie setzt daher zwangsläufig eine leicht verzerrte Beziehung zur literarischen Technik der Übersetzung voraus. Der Versuch der Rationalisierung der Differenz durch die Inszenierung äußert sich darin, dass nicht mehr nach einer besonderen Kluft gesucht wird, sondern nach einem einzigartigen, Sinn stiftenden Staunen.
Die Ablehnung der Normativität führt somit zu einer besonderen Beziehung zur Sprache: Was als extrem besonders erlebt wird, verändert keine Dimension, die mit anderen geteilt werden kann. Stattdessen geht es darum zu zeigen, inwieweit die Rückkehr zu mythologischen Ursprüngen einen bestimmten Prozess sprachlicher Reifung widerspiegelt: Die Konfrontation mit der Komplexität und der Strenge eines Mythos, einer Sprache, deren Codes und Symbole durch ein mystisches Element zusätzliche Komplexität gewinnen, steht im Zentrum der Vereinheitlichung eines theatralischen Sprachraums. Diese Idee einer ethischen Übersetzung hat auch eine moralische und politische Ebene: Der/die Andere ist mit dem Selbst identisch, Übersetzung ist Aktualisierung, ein bevorzugtes Mittel, um Nationalsprachen und Literaturen miteinander in Dialog zu bringen. Diese Dynamik der Zeitgenossenschaft schafft Nähe und sorgt für eine Gleichstellung.
Durch den Rückgriff auf antike Mythen wird sie zur gegenseitigen Anerkennung, wie es MarDis Verwendung von Singular und Plural als austauschbare Elemente, die einander gegenüberstehen und miteinander verschmelzen, ganz am Ende des Stücks beweist: «ES WIRD» ist Ausdruck einer zunächst beunruhigenden Einheit, die nach dem Universellen strebt, nach der mythologischen, mythischen Zeitlosigkeit. Somit ruft die eingehende theatralische Untersuchung des übersetzten Mythos den Menschen dazu auf, sich aus der Harmoniebeziehung mit dem zu lösen, was ihm als Natur erscheint. Eine potenzielle kulturelle Harmonisierung ließe sich somit rein ästhetisch analysieren: Gemeinsam haben es das religiöse, hier mythologische Denken und das technische Denken durch die Herausforderungen der Übersetzung ermöglicht, den kulturellen Verlust als echte Tragödie darzustellen, obwohl die Bühne doch eigentlich der Ort der Vereinigung dieser beiden Instanzen zu sein scheint.
Durch die Übertragung mythologischer Erzählungen ins Theater tritt somit eine politische und ethische Dimension des Selbst gegenüber dem/der Anderen zu Tage. Nur wer durch die Begegnung mit der Sprache des Anderen aus sich selbst heraustritt, kann wirklich zu sich selbst finden. In diesem Sinne ist dies die Herausforderung der «Verschiebung», über die Simmel in Die Tragödie der Kultur spricht: Es ist notwendig, die ursprüngliche Vorstellung von der eigenen Sprache zu dezentrieren, damit das Besondere nach dem Universellen streben kann. Durch ihre Fabelhaftigkeit lässt die Mythologie eine Unpersönlichkeit zu, die von lebendigen Einheiten geteilt werden kann und nicht mehr Ausdruck eines Menschen, sondern der Menschheit ist. In der Verschiebung liegt die Wiederentdeckung einer Einheit, die die Zeitlichkeit des Wesens transzendiert, das Bewusstsein einer Differenz, hier einer sprachlichen, durch die eine gemeinsame Verbindung zur Alterität[3] entsteht.
[1] In Anlehnung an Claude Lévi-Strauss, Kapitel 8 von La Pensée sauvage (Das wilde Denken), «Le temps retrouvé» (Die wiedergefundene Zeit): «Wenn uns ein exotischer Brauch trotz (oder gerade wegen) seiner offensichtlichen Einzigartigkeit fasziniert, dann deshalb, weil er uns wie ein Zerrspiegel ein vertrautes Bild präsentiert, das wir undeutlich wiedererkennen, ohne es jedoch identifizieren zu können .»
[2] F. Dupont analysiert in Les Monstres de Sénèque (Die Monster des Seneca) Konstanten in der römischen Mythologie. Die Abfolge nefas, dolor, furor ermöglicht die Analyse von Leidenschaften und Gesetzen, die zugleich affektiv, juristisch und moralisch sind. In jedem römischen Mythos bleibt das Verbrechen ungesühnt und scheint daher durch die Inszenierung verewigt zu sein.
[3] Simmel, Die Tragödie der Kultur: «Kultur ist der Weg, der von der geschlossenen Einheit über die Entfaltung der Vielfalt zur entfalteten Einheit führt.»
Nach dem Absolvieren einer Vorbereitungsklasse für Elite-Hochschulen mit den Schwerpunkten Geisteswissenschaften, Literatur und Fremdsprachen in Nizza studiert Fleur Hyjazi nun Kulturpolitik und Mäzenatentum im Master bei Sciences Po in Aix-en-Provence. Im Rahmen eines einjährigen deutsch-französischen Freiwilligendienstes ist sie bis Ende August 2025 als Kulturassistentin im Bureau du théâtre et de la danse/Institut français d’Allemagne tätig.
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