Im Programmheft der Inszenierung schreibt Vitez: «Sie haben gewonnen, sagt Galilei, und beschuldigt sich seiner schlechten List. Aber hat Brecht, indem er Galileis Beitrag schrieb, sich selbst gerettet?» Denkst du, dass Vitez diese Frage sich zu dem Zeitpunkt seiner Karriere auch selbst gestellt hat, in Bezug auf seine eigene Arbeit?
Das glaube ich auf jeden Fall. Diese Verbindungslinie, die er zwischen Faust und Brecht hergestellt hat, und die Frage nach der Haltung des Intellektuellen gegenüber der Macht ganz allgemein war eine Frage, die auch Vitez sich stellte. Auch in Bezug auf die eingegangenen Kompromisse, als er vom Chaillot «vertrieben» wurde zum Beispiel, denn das war ja nicht sein Plan, am Chaillot aufzuhören und an die Comédie Française zu gehen. Und in Bezug auf dieses Gefühl von Verrat oder Bruch gegenüber der Truppe von Leuten, die sich über viele Jahre hinweg um seine Arbeit herum gebildet hatte. Ja, ich glaube, es gab so was in der Art bei ihm. In einem bestimmten Moment ist es nicht wahr, dass die List am Ende ein Segen ist oder dass es gut ausgeht. Man braucht einen langen Löffel, wie man auf Deutsch sagt, wenn man mit dem Teufel essen will. Es war für ihn auch eine Art und Weise, zu seinem kommunistischen Engagement zurückzukommen. Ich glaube, ja, er identifizierte sich selbst auch mit Galilei.
Und in gewisser Weise war seine Inszenierung von «Leben des Galilei» an der Comédie-Française wie das Schmuggeln der Discorsi durch Andrea. Es war seine Art zu sagen, ok ich bin jetzt hier, im Samt und Stuck der Großbourgeoisie an der Comédie-Française, aber ich schmuggle diesen Text hier rein. Und es hat funktioniert, das Publikum der Comédie-Française hat den Braten nicht gerochen, könnte man sagen.
Ich erinnere mich, dass ein Onkel von mir, der rechts oder sogar rechtsextrem gewählt hat und ganz begeistert war, dass meine Übersetzung an der Comédie-Française gespielt wurde, in die Inszenierung gegangen ist, natürlich ohne irgendeinen Schimmer, wer Brecht war, und hinterher gesagt hat, tolles Stück, schöne Inszenierung.
Ich glaube, die Frage, die sich durchzieht bei Antoines Inszenierungen – nicht nur bei «Leben des Galilei», auch schon bei «Faust», oder als er «Hamlet» inszeniert – ist jedes Mal dieselbe, in ihr liegt eine Spannung, ein Widerspruch: Was kann das Theater, was kann der Einzelne mit den Mitteln des Theaters, macht es uns Brechts Projekt – eine durch das Theater erworbene Intelligenz – möglich, die Welt um uns herum zu verändern und formbar zu machen und auf das einzuwirken, was uns entfremdet? Antoine war sich da nicht so sicher, er zweifelte, er hinterfragte das. Aber ihm gefiel eben gerade, dass Brecht sich am Kreuzungspunkt dieser Widersprüche befand – wie Antoine eigentlich selbst auch.
Also ich glaube ja, es gibt da eine Art innere Verwandtschaft zwischen den beiden. Diese Komplexität bei Antoine, in seinem Liebesleben, in seinem politischen Tun. Was er bei Brecht mochte, war eben gerade das, was nicht der orthodoxe Brecht war, den man uns zeigte, ihn interessierte ein ganz anderer Brecht. Und das ist sehr präsent in «Leben des Galilei».
Du hast eine «Poetik der Theaterübersetzung»² geschrieben. Worin besteht für dich der Unterschied zwischen dem Übersetzen für das Theater und dem Übersetzen von Prosa oder Lyrik? Wodurch unterscheidet sich der «rhythmische Beitrag eines Autors zur Welt», wie du sagst, wenn dieser Autor für die Bühne schreibt?
Die Antwort ist kurz, wenn man bei Meschonnics These bleibt: Gar nicht. Kein Unterschied – worauf es ankommt, ist, was ein Autor mit seiner Sprache macht, also das, was wir zu übersetzen haben, ist der Versuch, in unserer Sprache zu tun, was der andere in seiner getan hat. Und dass die Schwierigkeit weder mit dem Genre zu tun hat noch mit einem Unterschied zur Literatur oder Lyrik. Ich vereinfache, aber es ist eine ziemlich radikale Position.
Und dann glaube ich trotzdem, in einem zweiten Schritt, aufgrund meiner Erfahrung und der Erfahrungen meiner Übersetzungen, dass dieser Projektion in die Utopie einer Aufführung, die jede Theaterübersetzung ist, die Idee zugrunde liegt, dass die Sprache, die man da hinschreibt, auf Körper treffen wird, auf Körper im Spiel, und nicht nur im Kopf gelesen wird, im Sessel. Und dass die Art und Weise, wie man übersetzt, demnach nicht nur mit einer «Sprechbarkeit» zusammenhängt, sondern auch damit, wie sie die Körperfantasie des Schauspielenden füttert, inwiefern sie durch ihren Klang, durch das Konsonantenschema mancher Sätze, eine besondere Energie in das Spiel hineinbringt, wie sie zu einem Sprungbrett für das Spiel wird.
Ich denke also – trotz der Position von Meschonnic -, dass man nicht nur Gedanken, Ideen oder die Bewegung des Denkens übersetzen muss, sondern dass wir den Schauspieler:innen auch ein poetisches Material anbieten müssen, das ein Sprungbrett für ihre Vorstellungskraft im Spiel ist. Und daher treffen wir manchmal Entscheidungen, die wörtlich genommen «ungenau» sind, weil wir aber verstanden haben, dass der Satzauftakt mit einem bestimmten Konsonanten wichtiger als alles sonst ist, und dass dieser Satzauftakt deshalb Priorität hat. Deshalb nehmen wir das dann hin, auf der Goldwaage unseres Übersetzergewissens treffen wir Entscheidungen, die – vielleicht ist das ein bisschen fantastisch – mit der Idee verbunden sind, dass das, was wir produzieren, auf die beteiligten Körper eine glückliche Auswirkung haben wird.
Da ist noch was, was mich bei meiner Arbeit immer begleitet hat: Das ist der Gedanke, dass man im Theater nichts nochmal lesen kann, man nicht zurückblättern oder zurückspulen kann, und deshalb eine gewisse Klarheit in der Aussage wichtig ist. Es mag dunkle Punkte in einer Sprache und einem Schreiben geben, die muss man beibehalten, aber es gibt so was wie die Bemühung um größtmögliche Klarheit. Und das ist keine Bemühung, etwas zu erklären. Eine Bemühung um Klarheit meint die Klarheit des Gesagten, die das, was man hört, unmittelbar fassbar macht. Es kann für unser Verständnis dann immer noch völlig unklar sein, aber man hat es zumindest richtig verstanden. Und bei Brecht ist wirklich erstaunlich, wie er seine Texte zusammenbastelt, wie er das Material organisiert, wie er mit dem Material der anderen spielt, wie er die Texte von diesen und jenen kannibalisiert und sie verwandelt. Das hat etwas sehr Spielerisches, das man auch bewahren muss. Es gibt in Brechts Sprache etwas Lustvolles, das sich nicht auf die Didaktik einer Idee oder einer Position reduzieren lässt. Ich glaube, Brechts Didaktik hat viel damit zu tun, dass in der Sprache die Widersprüche unaufhörlich wirken und dass die Figuren von Brecht eine Art Stelle sind, an der sich alle Widersprüche einer Gesellschaft kreuzen. Das ist keine Psychologie, sondern eine Art Ausstellung von Widersprüchen, in der Figur von Mutter Courage zum Beispiel oder von Galilei.
Zu der Inszenierung von 2019 von «Leben des Galilei» in deiner Übersetzung, die jetzt im Oktober 2022 an der Comédie-Française wiederaufgenommen wurde, wollte ich dich fragen: Wie bist du dem Text begegnet, als er in der Inszenierung von Éric Ruf 30 Jahre nach der von Antoine Vitez neu gespielt werden sollte? Was bedeutete diese Reise in die Vergangenheit für dich? Hast du manche Passagen deiner Übersetzung überarbeitet, und wenn ja, unter welchen Aspekten?
Die Tatsache, dass Éric Ruf von der Übersetzung ausgegangen ist, die Vitez für die Comédie-Française in Auftrag gegeben hat, und er sich so in diese Geschichte einreiht, hat mir sehr gut gefallen. Zur gleichen Zeit inszenierte außerdem Claudia Stavisky, eine ehemalige Schülerin von Vitez, die das Théâtre des Célestins in Lyon leitet, ebenfalls «Leben des Galilei», meine Übersetzung wurde also gleichzeitig in Lyon und Paris gespielt. In Lyon spielte Philippe Torreton die Rolle des Galilei und er hatte damals in der Inszenierung von Antoine Vitez den kleinen Mönch gespielt. Es gab also diese Art Erinnerung in Lyon, und an der Comédie-Française war da Roland Bertin, wunderbarer Galilei-Interpret, der zu Vitez‘ Zeiten die ganze Tradition der französischen Brecht-Rezeption mitbrachte.
Als wir uns 2019, dreißig Jahre später, treffen, war ich als erstes freudig überrascht, dass Hervé Pierre die Rolle des Galilei spielen würde, denn ich mag ihn sehr, also war ich sehr zuversichtlich. Der erste Kontakt bezüglich des Projekts hatte ich über Éric Ruf und seinen Assistenten, die sagten, wir planen das zu machen, wir brauchen deine Zustimmung, damit wir die Übersetzung verwenden können, und willst du was überarbeiten, und vor allem wollten wir dich vorwarnen, dass wir Striche machen. Und welche Striche, da kannst du uns vielleicht helfen.
Zu dem Zeitpunkt habe ich dann meine Übersetzung nochmal gelesen. Aber diese Übersetzung, die 1989 für Antoine gemacht habe, ist immer wieder angefragt worden, sie ist ein Art Klassiker geworden, ich hatte Gelegenheit, sie in mehreren Inszenierungen zu sehen, von Jean-François Sivadier, von Jacques Lassalle, und jedes Mal war ich bei den Proben dabei und jedes Mal habe ich hier und da kleine Anpassungen gemacht. Und eigentlich war es mit Éric Ruf fast dasselbe; an sehr wenigen Stellen. Ich wollte nicht so viel an diesem irgendwie magischen Gleichgewicht rütteln, das einerseits durch meine Jugend und Unbedarftheit als Übersetzer entstanden war, andererseits durch Antoines große Klarheit und seine Fähigkeit, mir durch sein Feedback, seine Ratschläge zu helfen, an der Übersetzung zu feilen. Und natürlich durch das Spiel der Schauspieler:innen und meine Anwesenheit in den Proben, wodurch ich den Text schon 1989 anhand der Bühne adjustieren konnte. Ich habe also nicht viel geändert, sondern vor allem Strichvorschläge gemacht.
Aber deine Frage klingt bei mir nach, weil, wie du weißt, bin ich immer dafür, regelmäßig neu zu übersetzen. Weil ich denke, dass das das Leben von Texten ist und es ist gut. Ich glaube nicht, dass es endgültige Übersetzungen gibt, deshalb glaube ich auch nicht, dass meine Übersetzung von «Leben des Galilei» etwas Endgültiges ist.
Es gibt so eine Haltung bei manchen Regisseuren, die sagen, Vitez hat das inszeniert, es wurde an der Comédie-Française gespielt, also fechten wir das nicht an, aber das ist vielleicht eine faule Haltung, wenn man die Perspektive der Neuübersetzung einnimmt.
Deswegen: Ich würde gerne irgendwann «Leben des Galilei» neu übersetzen, und dabei nicht von meiner Übersetzung ausgehen, sondern vom deutschen Text. Um zu sehen, was 30 Jahre später passiert – mit allem, was ich inzwischen an Kenntnis über Brecht und die deutsche Sprache dazugewonnen habe. Was sich da ändern würde.
Aber es ist nicht so leicht. Was ich gemerkt habe, als ich anfing, mich für Claudia Stavisky und Éric Ruf nochmal einzulesen: Das Problem bei einer Übersetzung ist, wenn du anfängst, hier und da an Schräubchen zu drehen und neu zu übersetzen, musst du alles neu übersetzen.
Wenn du eine Masche aufmachst, löst sich alles auf, dann musst du auch alles neu übersetzen, du kannst nicht daran rumflicken.
Es gibt viele Regisseur:innen, die so arbeiten und Übersetzungen zusammenflicken, in Deutschland wird das viel gemacht, aber ich glaube nicht daran. Ich glaube, Texte haben eine Konsistenz, und große Texte haben eine starke Konsistenz.
Und das hat nichts mit Demut zu tun, sondern damit, aufmerksam zu sein für die Kraft dieser Formgeber, die Dramatiker wie Brecht oder Ibsen sind.
¹Émile Copfermann, «Conversations avec Antoine Vitez : de Chaillot à Chaillot», POL, Paris, 1999.
²Éloi Recoing, Poétique de la traduction théâtrale. Essai. 2010. https://journals.openedition.org/traduire/450
Das Interview wurde von Corinna Popp aus dem Französischen übersetzt.
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