Corinna Popp im Gespräch mit dem französischen Übersetzer Éloi Recoing Brecht, Vitez und die Comédie-Française: 30 Jahre danach

Corinna Popp: Éloi, wie kam es dazu, dass du 1989 für die Inszenierung von Antoine Vitez Brechts «Leben des Galilei» übersetzt hast, den ersten Brecht an der Comédie-Française?

Éloi Recoing: Ich hatte 1989 schon sechs Jahre lang mit Antoine Vitez als Dramaturgie- und Regieassistent am Théâtre National de Chaillot gearbeitet. 1988 wurde Vitez an die Comédie-Française berufen, was für ihn erstmal einen Bruch mit seinem Umfeld und seinem gewohnten Team bedeutete. Er versuchte natürlich, so viele Arbeitsbeziehungen wie möglich aufrechtzuerhalten, um sein «kreatives Biotop» zu bewahren. Ein paar Jahre zuvor hatte ich Vitez meine erste richtige Theaterübersetzung zu lesen gegeben, das war Heinrich von Kleists «Familie Schroffenstein». Das hatte ihm gefallen, außerdem mochte er meine eigenen Texte – er vertraute vielleicht mehr auf den Dichter, den er in mir sah, als auf den jungen Übersetzer. Und er hat immer versucht, die jungen Leute zu fördern. Er wollte mir helfen, einen Fuß in die Tür zu kriegen, indem er mich als Übersetzer von «Leben des Galilei» vorschlug. Aber das war trotzdem sehr gewagt von ihm und sehr überraschend für mich.
Gewagt, weil es auf große Ablehnung stieß – bei den französischen Brechtianern, bei L’Arche, dem Verlag, und bei Rudolph Rach, dem damaligen Verlagsleiter. Wieso sollte so ein junger Mann, der da aus dem Nirgendwo auftauchte, für Antoine Vitez «Leben des Galilei» übersetzen? Ich denke, dass Antoine sich nicht täuschte, er hatte die richtige Intuition, mir die Sache vorzuschlagen, ich war wegen meines eigenen Schreibens, meinem Verhältnis zu anderen Sprachen und zum Theater wahrscheinlich in diesem Moment die richtige Person für ihn.
Aber es gab noch einen Grund: Er wollte so eine Art Bruch mit seiner eigenen Brecht-Generation schaffen – er hatte die Jean-Vilar-Inszenierungen gesehen, für die Zeitschrift Bref geschrieben, er hatte die hitzigen Debatten in der Zeitschrift Théâtre populaire mitverfolgt, hatte Kontakt zu Bernard Dort, der zum Beispiel ein Kandidat für eine Neuübersetzung von «Leben des Galilei» hätte sein können. Das wäre für Antoines Generation logischer gewesen, aber er wollte den Sprung zu einer neuen Generation machen, weil er mit der Brecht-Lesart, die in Frankreich in den 1960er und -70er Jahren richtungsweisend gewesen ist, nennen wir sie den «Vulgär-Brecht», nicht einverstanden war, er wollte etwas dagegensetzen. Für mich war das alles eher mysteriös und mit Stress verbunden, weil der Kontext, für die Comédie-Française zu übersetzen, viele Zwänge mit sich brachte, wie den des Lesekomitees, das die Übersetzung abnehmen musste, bevor das Stück in den Spielplan aufgenommen wurde. Besonders, weil es für die große Bühne war (die Salle Richelieu), man müsste mal in den Archiven der Comédie-Française nachsehen, aber ich glaube, vor dieser Inszenierung gab es nur irgendwann eine «Mutter Courage» oder so, ich weiß nicht mehr genau, auf jeden Fall hatte das in dem Moment große Bedeutung.

 

Antoine Vitez vertrat die Auffassung, dass in einer Übersetzung, die, wie er sagte, «ein vollständiges literarisches Werk» ist, bereits eine potenzielle Inszenierung enthalten sei. Kannst du uns was zu dieser Auffassung von ihm sagen und ob er dir, bevor du mit dem Übersetzen von «Leben des Galilei» angefangen hast, bestimmte Anweisungen gegeben hat?

Es gibt in Antoines Texten mehrere Formulierungen zu diesem Begriff der Übersetzung. Am klarsten für mich ist, wie er es in einem Interview mit Émile Copfermann¹ formuliert, da sagt er, die Übersetzung sei die erste Inszenierung eines Textes. Es ist insofern missverständlich, weil man denken könnte, er meint, die Übersetzung wäre eine dramaturgische Antwort auf ein Inszenierungsprojekt oder solle sich dem Projekt des Regisseurs und seiner Sicht auf das Werk anpassen oder sie bedienen.
Ich glaube vielmehr, für ihn liegt der Gedanke der ersten Inszenierung eines Textes darin, dass jede Theaterübersetzung eine Projektion in die Utopie einer Aufführung ist, dass sie ein zukünftiges Gespielt werden voraussetzt und damit in gewisser Hinsicht beginnt: Sie beginnt ein Spiel, auch wenn es nur das Spiel imaginärer Körper ist. Die Dramaturgie eines Theaterstücks hängt an lexikalischen Entscheidungen, an Entscheidungen der Syntax und an rhythmischen Entscheidungen, die beim Übersetzen getroffen werden. Und all diese Komponenten sind Spiel-Material, sie leisten dem Spiel Vorschub. Vitez sagt aber auch mehrfach, dass die Vielzahl von möglichen Lesarten eines Theaterstücks in einer Übersetzung erhalten bleiben muss, d. h. die Übersetzung ist keine vereinfachende Erklärung einer Sichtweise auf das Stück, sondern sie muss die Polysemie eines Werkes mittragen.
Man darf diese Idee der Übersetzung als erste Inszenierung eines Textes nicht überinterpretieren. Gemeint ist einfach, dass die Geste des Übersetzens der Geste des Inszenierens ähnlich ist, im Sinne einer Metamorphose des Originaltextes, zuerst in seine französische Version, aber auch im Hinblick auf seine zukünftigen szenischen Möglichkeiten, durch die zum Beispiel die Vorstellungskraft der Schauspieler:innen, die Vorstellungskraft ihrer Körper, gefüttert wird. Die Sprache, die wir produzieren, hat darauf eine Auswirkung, das, was lexikalische Entscheidungen in der Vorstellungskraft für das Spiel auslösen usw. In dieser Hinsicht stellten für Antoine tatsächlich viele Elemente der Übersetzung eine erste Inszenierung dar.
Dahinter liegt auch die Idee der Variation. Die unendliche Variation – die Möglichkeit, einen Text immer anders auszudrücken, so wie es die Inszenierung tut, die Übersetzung arbeitet in dieselbe Richtung. Antoine hat mir, das ist interessant, keine Anweisungen im strengeren Sinne gegeben, aber wir haben viel geredet, und ich erinnere mich an drei Dinge, die er mir gesagt hat: 1. war für ihn die Verbindung sehr wichtig zwischen Galilei und Goethes Faust, das war für ihn so eine Intuition beim Lesen, die Tatsache, dass Goethes Vorlage an vielen Stellen in Brechts Stück zu finden ist, also dass ich das im Kopf haben sollte. 2. Dass ich an Diderot denken sollte, das hat er gesagt, «Denk an Diderot» … Kennst Du Brechts Text über die «Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit», da gehört auch die List dazu. Im Grunde hat Antoine eine List angewandt, um «Leben des Galilei» an der Comédie-Française zu inszenieren, er wollte, dass es daherkommt  «wie Diderot» –  also die schöne Sprache des 18. Jahrhunderts. Das ist ein Aspekt, aber natürlich auch wegen der Gemeinsamkeiten zwischen Brecht und Diderot, was die Theorie und Praxis der Schauspielkunst angeht.
Und 3., und ich glaube, deswegen hat er es auch mich übersetzen lassen, weil er fand – ich bin der Falsche, um das zu beurteilen – aber er fand auch, dass ich gut schreibe, dass ich Poet bin, und dass die Poesie bei Brecht etwas ist, was in den früheren Übersetzungen nicht berücksichtigt wurde und dass man unbedingt Zeugnis leisten musste – eigentlich offensichtlich, aber man kann es nicht oft genug sagen – dass Brecht einer der größten deutschen Dichter der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Er setzte auf mich, auf mein junges Alter und mein dichterisches Talent, um dem nachzuspüren und zu versuchen, die Brecht’sche Dichtkunst im Schreiben wiederzugeben.
Das also so im Vorfeld, keine konkrete Anweisung außer diesen generellen Überlegungen. Was er noch gesagt hat – aber das springt beim Lesen von «Leben des Galilei» auch ins Auge – ist, dass man dieses Leben des Galilei auf jeden Fall so verstehen muss, dass wir es nicht nur mit einer Renaissance-Erzählung zu tun haben, sondern dass Brecht von sich selbst spricht, von seiner Situation in Ostdeutschland, dass diese Frage des Intellektuellen und des Pakts, den er mit dem Teufel eingeht, für Brecht auch zu jenem Zeitpunkt aktuell geblieben war. An dieser Art von Hinweisen erkennt man, wie er gleichzeitig die Geschichte im Gewand der Renaissance erzählen und die Themen herausarbeiten wollte, die sich durch das Stück ziehen und über den Renaissance-Plot hinaus auf den ganz realen Kampf Brechts mit sich selbst und seinem damaligen Theaterumfeld verweisen.

 

Hast du beim Übersetzen versucht, eher Richtung Renaissance zu gehen oder eher Richtung 20. Jahrhundert?

Ich habe Henri Meschonnic quasi mit der Muttermilch aufgesogen und alle Debatten zwischen Vitez und Meschonnic und die Konferenzen am Chaillot verfolgt, und ich war absolut überzeugt von Meschonnics Position, dass man den Wortlaut des Textes unbedingt zu achten hat und dass man vorsichtig sein muss mit allem, was sich außerhalb des Textes befindet. Das heißt, dass mein Vorhaben nicht sein konnte, Galilei für die Comédie-Française zu adaptieren oder zu aktualisieren, weil die Mauer fällt und man bestimmte Dinge hörbar machen muss usw. Nein, ich habe wirklich sehr auf den Wortlaut des Textes geachtet. Antoine hingegen war wegen seiner List, Galilei an die Comédie-Francaise zu bringen, darauf bedacht, das Disparate in Brechts Sprache nicht zu sehr hervorzuheben, sondern eher, es zu schmälern. Zum Beispiel hatte ich «cargo» übersetzt, im Deutschen steht da das Wort «Cargo», also dachte ich, ich übersetze es mit cargo, aber er hat gesagt, nein, das geht nicht, das ist ein Wort von heute, es passt nicht in die Zeit, ich sage, ja, aber das macht Brecht ja absichtlich, er will eine Distanz zur Renaissance-Erzählung herstellen, indem er das Wort dahinsetzt, also berücksichtige ich das.
Aber er hatte da einen Widerstand gegen solche lexikalischen Elemente, weil er dachte, das ist zu ostentativ von Brecht, das würde den Lesefluss des Zuschauers beeinträchtigen. Meiner Meinung nach keine sehr guten Argumente, ich glaube, er machte sich nur Sorgen um die Rezeption durch das Comédie-Française-Publikum. Wir haben also über so Kleinigkeiten verhandelt, aber eher danach, nachdem ich mit der Übersetzung fertig war, beim Korrekturlesen und in den Proben.

«Leben des Galilei» (2022) in der Regie Éric Ruf an der Comédie-Française (Foto: Vincent Pontet, coll. Comédie-Française)

Im Programmheft der Inszenierung schreibt Vitez: «Sie haben gewonnen, sagt Galilei, und beschuldigt sich seiner schlechten List. Aber hat Brecht, indem er Galileis Beitrag schrieb, sich selbst gerettet?» Denkst du, dass Vitez diese Frage sich zu dem Zeitpunkt seiner Karriere auch selbst gestellt hat, in Bezug auf seine eigene Arbeit?

Das glaube ich auf jeden Fall. Diese Verbindungslinie, die er zwischen Faust und Brecht hergestellt hat, und die Frage nach der Haltung des Intellektuellen gegenüber der Macht ganz allgemein war eine Frage, die auch Vitez sich stellte. Auch in Bezug auf die eingegangenen Kompromisse, als er vom Chaillot «vertrieben» wurde zum Beispiel, denn das war ja nicht sein Plan, am Chaillot aufzuhören und an die Comédie Française zu gehen. Und in Bezug auf dieses Gefühl von Verrat oder Bruch gegenüber der Truppe von Leuten, die sich über viele Jahre hinweg um seine Arbeit herum gebildet hatte. Ja, ich glaube, es gab so was in der Art bei ihm. In einem bestimmten Moment ist es nicht wahr, dass die List am Ende ein Segen ist oder dass es gut ausgeht. Man braucht einen langen Löffel, wie man auf Deutsch sagt, wenn man mit dem Teufel essen will. Es war für ihn auch eine Art und Weise, zu seinem kommunistischen Engagement zurückzukommen. Ich glaube, ja, er identifizierte sich selbst auch mit Galilei.
Und in gewisser Weise war seine Inszenierung von «Leben des Galilei» an der Comédie-Française wie das Schmuggeln der Discorsi durch Andrea.  Es war seine Art zu sagen, ok ich bin jetzt hier, im Samt und Stuck der Großbourgeoisie an der Comédie-Française, aber ich schmuggle diesen Text hier rein. Und es hat funktioniert, das Publikum der Comédie-Française hat den Braten nicht gerochen, könnte man sagen.
Ich erinnere mich, dass ein Onkel von mir, der rechts oder sogar rechtsextrem gewählt hat und ganz begeistert war, dass meine Übersetzung an der Comédie-Française gespielt wurde, in die Inszenierung gegangen ist, natürlich ohne irgendeinen Schimmer, wer Brecht war, und hinterher gesagt hat, tolles Stück, schöne Inszenierung.
Ich glaube, die Frage, die sich durchzieht bei Antoines Inszenierungen – nicht nur bei «Leben des Galilei», auch schon bei «Faust», oder als er «Hamlet» inszeniert – ist jedes Mal dieselbe, in ihr liegt eine Spannung, ein Widerspruch: Was kann das Theater, was kann der Einzelne mit den Mitteln des Theaters, macht es uns Brechts Projekt – eine durch das Theater erworbene Intelligenz – möglich, die Welt um uns herum zu verändern und formbar zu machen und auf das einzuwirken, was uns entfremdet? Antoine war sich da nicht so sicher, er zweifelte, er hinterfragte das. Aber ihm gefiel eben gerade, dass Brecht sich am Kreuzungspunkt dieser Widersprüche befand –  wie Antoine eigentlich selbst auch.
Also ich glaube ja, es gibt da eine Art innere Verwandtschaft zwischen den beiden. Diese Komplexität bei Antoine, in seinem Liebesleben, in seinem politischen Tun. Was er bei Brecht mochte, war eben gerade das, was nicht der orthodoxe Brecht war, den man uns zeigte, ihn interessierte ein ganz anderer Brecht. Und das ist sehr präsent in «Leben des Galilei».

 

Du hast eine «Poetik der Theaterübersetzung»² geschrieben. Worin besteht für dich der Unterschied zwischen dem Übersetzen für das Theater und dem Übersetzen von Prosa oder Lyrik? Wodurch unterscheidet sich der «rhythmische Beitrag eines Autors zur Welt», wie du sagst, wenn dieser Autor für die Bühne schreibt?

Die Antwort ist kurz, wenn man bei Meschonnics These bleibt: Gar nicht. Kein Unterschied – worauf es ankommt, ist, was ein Autor mit seiner Sprache macht, also das, was wir zu übersetzen haben, ist der Versuch, in unserer Sprache zu tun, was der andere in seiner getan hat. Und dass die Schwierigkeit weder mit dem Genre zu tun hat noch mit einem Unterschied zur Literatur oder Lyrik. Ich vereinfache, aber es ist eine ziemlich radikale Position.
Und dann glaube ich trotzdem, in einem zweiten Schritt, aufgrund meiner Erfahrung und der Erfahrungen meiner Übersetzungen, dass dieser Projektion in die Utopie einer Aufführung, die jede Theaterübersetzung ist, die Idee zugrunde liegt, dass die Sprache, die man da hinschreibt, auf Körper treffen wird, auf Körper im Spiel, und nicht nur im Kopf gelesen wird, im Sessel. Und dass die Art und Weise, wie man übersetzt, demnach nicht nur mit einer «Sprechbarkeit» zusammenhängt, sondern auch damit, wie sie die Körperfantasie des Schauspielenden füttert, inwiefern sie durch ihren Klang, durch das Konsonantenschema mancher Sätze, eine besondere Energie in das Spiel hineinbringt, wie sie zu einem Sprungbrett für das Spiel wird.
Ich denke also – trotz der Position von Meschonnic -, dass man nicht nur Gedanken, Ideen oder die Bewegung des Denkens übersetzen muss, sondern dass wir den Schauspieler:innen auch ein poetisches Material anbieten müssen, das ein Sprungbrett für ihre Vorstellungskraft im Spiel ist. Und daher treffen wir manchmal Entscheidungen, die wörtlich genommen «ungenau» sind, weil wir aber verstanden haben, dass der Satzauftakt mit einem bestimmten Konsonanten wichtiger als alles sonst ist, und dass dieser Satzauftakt deshalb Priorität hat. Deshalb nehmen wir das dann hin, auf der Goldwaage unseres Übersetzergewissens treffen wir Entscheidungen, die – vielleicht ist das ein bisschen fantastisch – mit der Idee verbunden sind, dass das, was wir produzieren, auf die beteiligten Körper eine glückliche Auswirkung haben wird.
Da ist noch was, was mich bei meiner Arbeit immer begleitet hat: Das ist der Gedanke, dass man im Theater nichts nochmal lesen kann, man nicht zurückblättern oder zurückspulen kann, und deshalb eine gewisse Klarheit in der Aussage wichtig ist. Es mag dunkle Punkte in einer Sprache und einem Schreiben geben, die muss man beibehalten, aber es gibt so was wie die Bemühung um größtmögliche Klarheit. Und das ist keine Bemühung, etwas zu erklären. Eine Bemühung um Klarheit meint die Klarheit des Gesagten, die das, was man hört, unmittelbar fassbar macht. Es kann für unser Verständnis dann immer noch völlig unklar sein, aber man hat es zumindest richtig verstanden. Und bei Brecht ist wirklich erstaunlich, wie er seine Texte zusammenbastelt, wie er das Material organisiert, wie er mit dem Material der anderen spielt, wie er die Texte von diesen und jenen kannibalisiert und sie verwandelt. Das hat etwas sehr Spielerisches, das man auch bewahren muss. Es gibt in Brechts Sprache etwas Lustvolles, das sich nicht auf die Didaktik einer Idee oder einer Position reduzieren lässt. Ich glaube, Brechts Didaktik hat viel damit zu tun, dass in der Sprache die Widersprüche unaufhörlich wirken und dass die Figuren von Brecht eine Art Stelle sind, an der sich alle Widersprüche einer Gesellschaft kreuzen. Das ist keine Psychologie, sondern eine Art Ausstellung von Widersprüchen, in der Figur von Mutter Courage zum Beispiel oder von Galilei.


Zu der Inszenierung von 2019 von «Leben des Galilei» in deiner Übersetzung, die jetzt im Oktober 2022 an der Comédie-Française wiederaufgenommen wurde, wollte ich dich fragen: Wie bist du dem Text begegnet, als er in der Inszenierung von Éric Ruf 30 Jahre nach der von Antoine Vitez neu gespielt werden sollte? Was bedeutete diese Reise in die Vergangenheit für dich? Hast du manche Passagen deiner Übersetzung überarbeitet, und wenn ja, unter welchen Aspekten?

Die Tatsache, dass Éric Ruf von der Übersetzung ausgegangen ist, die Vitez für die Comédie-Française in Auftrag gegeben hat, und er sich so in diese Geschichte einreiht, hat mir sehr gut gefallen. Zur gleichen Zeit inszenierte außerdem Claudia Stavisky, eine ehemalige Schülerin von Vitez, die das Théâtre des Célestins in Lyon leitet, ebenfalls «Leben des Galilei», meine Übersetzung wurde also gleichzeitig in Lyon und Paris gespielt. In Lyon spielte Philippe Torreton die Rolle des Galilei und er hatte damals in der Inszenierung von Antoine Vitez den kleinen Mönch gespielt. Es gab also diese Art Erinnerung in Lyon, und an der Comédie-Française war da Roland Bertin, wunderbarer Galilei-Interpret, der zu Vitez‘ Zeiten die ganze Tradition der französischen Brecht-Rezeption mitbrachte.
Als wir uns 2019, dreißig Jahre später, treffen, war ich als erstes freudig überrascht, dass Hervé Pierre die Rolle des Galilei spielen würde, denn ich mag ihn sehr, also war ich sehr zuversichtlich. Der erste Kontakt bezüglich des Projekts hatte ich über Éric Ruf und seinen Assistenten, die sagten, wir planen das zu machen, wir brauchen deine Zustimmung, damit wir die Übersetzung verwenden können, und willst du was überarbeiten, und vor allem wollten wir dich vorwarnen, dass wir Striche machen. Und welche Striche, da kannst du uns vielleicht helfen.
Zu dem Zeitpunkt habe ich dann meine Übersetzung nochmal gelesen. Aber diese Übersetzung, die 1989 für Antoine gemacht habe, ist immer wieder angefragt worden, sie ist ein Art Klassiker geworden, ich hatte Gelegenheit, sie in mehreren Inszenierungen zu sehen, von Jean-François Sivadier, von Jacques Lassalle, und jedes Mal war ich bei den Proben dabei und jedes Mal habe ich hier und da kleine Anpassungen gemacht. Und eigentlich war es mit Éric Ruf fast dasselbe; an sehr wenigen Stellen. Ich wollte nicht so viel an diesem irgendwie magischen Gleichgewicht rütteln, das einerseits durch meine Jugend und Unbedarftheit als Übersetzer entstanden war, andererseits durch Antoines große Klarheit und seine Fähigkeit, mir durch sein Feedback, seine Ratschläge zu helfen, an der Übersetzung zu feilen. Und natürlich durch das Spiel der Schauspieler:innen und meine Anwesenheit in den Proben, wodurch ich den Text schon 1989 anhand der Bühne adjustieren konnte. Ich habe also nicht viel geändert, sondern vor allem Strichvorschläge gemacht.
Aber deine Frage klingt bei mir nach, weil, wie du weißt, bin ich immer dafür, regelmäßig neu zu übersetzen. Weil ich denke, dass das das Leben von Texten ist und es ist gut. Ich glaube nicht, dass es endgültige Übersetzungen gibt, deshalb glaube ich auch nicht, dass meine Übersetzung von «Leben des Galilei» etwas Endgültiges ist.
Es gibt so eine Haltung bei manchen Regisseuren, die sagen, Vitez hat das inszeniert, es wurde an der Comédie-Française gespielt, also fechten wir das nicht an, aber das ist vielleicht eine faule Haltung, wenn man die Perspektive der Neuübersetzung einnimmt.
Deswegen: Ich würde gerne irgendwann «Leben des Galilei» neu übersetzen, und dabei nicht von meiner Übersetzung ausgehen, sondern vom deutschen Text. Um zu sehen, was 30 Jahre später passiert – mit allem, was ich inzwischen an Kenntnis über Brecht und die deutsche Sprache dazugewonnen habe. Was sich da ändern würde.
Aber es ist nicht so leicht. Was ich gemerkt habe, als ich anfing, mich für Claudia Stavisky und Éric Ruf nochmal einzulesen: Das Problem bei einer Übersetzung ist, wenn du anfängst, hier und da an Schräubchen zu drehen und neu zu übersetzen, musst du alles neu übersetzen.
Wenn du eine Masche aufmachst, löst sich alles auf, dann musst du auch alles neu übersetzen, du kannst nicht daran rumflicken.
Es gibt viele Regisseur:innen, die so arbeiten und Übersetzungen zusammenflicken, in Deutschland wird das viel gemacht, aber ich glaube nicht daran. Ich glaube, Texte haben eine Konsistenz, und große Texte haben eine starke Konsistenz.
Und das hat nichts mit Demut zu tun, sondern damit, aufmerksam zu sein für die Kraft dieser Formgeber, die Dramatiker wie Brecht oder Ibsen sind.

¹Émile Copfermann, «Conversations avec Antoine Vitez : de Chaillot à Chaillot», POL, Paris, 1999.
²Éloi Recoing, Poétique de la traduction théâtrale. Essai. 2010. https://journals.openedition.org/traduire/450

Das Interview wurde von Corinna Popp aus dem Französischen übersetzt.

Éloi Recoing, geboren 1955, ist Autor, Regisseur und Übersetzer aus dem Deutschen und Norwegischen (u. a. von Brecht, Kleist, Wedekind und Ibsen) und lehrt an der Universität Sorbonne Nouvelle – Paris 3. Von 1984 bis 1990 ist er Assistent und künstlerischer Mitarbeiter von Antoine Vitez, zuerst am Théâtre National de Chaillot, dann an der Comédie Française. 1987 gründet er die Theatercompagnie «Cie du Passeur». Ab 2007 übernimmt er die Direktion des von seinem Vater Alain Recoing gegründeten Marionettentheaters Théâtre aux Mains Nues in Paris. Von 2014 bis 2018 leitet er das Institut International de la Marionnette in Charlesville-Mézières. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Theaterübersetzung und -poetik.

Corinna Popp, Übersetzerin aus dem Französischen und Schauspieldramaturgin, studierte an der Sorbonne Nouvelle in Paris Theaterwissenschaft, u.a. bei Éloi Recoing. Aktuell arbeitet sie an einer deutschen Herausgabe der Schriften von Antoine Vitez, der 1990 auf dem Höhepunkt seiner Karriere verstarb: «Leben des Galilei» war seine letzte Inszenierung. Als Intellektueller hat er, der nicht nur Regisseur und Intendant, sondern auch Schauspieler, Übersetzer, Dichter und Theaterpädagoge war, das Theater der 70er und 80er Jahre in Frankreich maßgeblich geprägt. Die deutsche Buchausgabe seiner Texte erscheint 2023 im Alexander Verlag Berlin.

Die Übersetzerin Corinna Popp (Foto: Hauke Kleinschmidt)

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