Der zweite Tag des «Primeurs Plus» – Symposiums 2023 Sagbares und Unsagbares
von Miriam Denger
PISTEN – auf der Spur eines ungewöhnlichen Theatertextes
Der Monolog «Pisten» der französischen Dramatikerin Penda Diouf beschreibt zwei dramaturgisch miteinander verwobene Reisen in die Vergangenheit: Die Erinnerungen eines Schwarzen Mädchens an eine Kindheit in der französischen Provinz, in der rassistische Erniedrigungen zu ihren alltäglichen Erfahrungen gehörten; eine weitere, die die mittlerweile erwachsene Protagonistin nach Namibia führt, wo sie mit dem durch die deutsche Kolonialmacht verübten Genozid an den Herero und Nama konfrontiert wird. Ein Stück also über die Identitätssuche einer jungen Frau, der nachgeborenen Generation und ihre Auseinandersetzung mit einer brutalen kolonialen Vergangenheit einerseits und dem alltäglichen Rassismus in ihrem Land andererseits.
Sehr ausführlich und aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln wird in zwei Gesprächsrunden, moderiert von Frank Weigand und Lisa Wegener, am zweiten Tag des Online-Symposiums «Primeurs Plus» der Weg nachgezeichnet, den dieser Theatertext auf die Bühne genommen hat – und zwar in umgekehrter Reihenfolge, beginnend mit der deutschsprachigen Premiere am Theater Münster im Oktober 2022, von deren Entstehungsprozess das Inszenierungsteam Remsi Al Khalisi und Samia Dauenhauer berichten, über den mehrjährigen Weg des Übersetzungsprozesses, den Annette Bühler-Dietrich mit dem Stück zurücklegte, zu den Ursprüngen des französischen Originals aus der Feder der Dramatikerin Penda Diouf.
Al Khalisi, Leiter der Schauspielsparte am Theater Münster, hatte das Stück 2021 beim Festival «Theater der Welt» in französischer Sprache gesehen und fand schnell heraus, dass eine deutsche Fassung bereits existierte, für die ein Theaterverlag sich die Aufführungsrechte gesichert hatte. Denn bereits 2018 hatte Übersetzerin Annette Bühler-Dietrich ihrerseits das Stück «entdeckt», als sie es bei Festival Les Récréatrales in Ouagadougou zum ersten Mal hörte und beschloss, es aus eigenem Antrieb zu übersetzen – zunächst ohne Auftrag also, aber mit der Absicht, es im darauffolgenden Jahr im Rahmen des African-Literature-Festivals in Stuttgart zu präsentieren. Bis zur endgültigen Theaterfassung sollte es noch eine Weile dauern, doch im engen Austausch mit der Autorin arbeitete sie an Fassungen, die immer wieder bei ein- oder mehrsprachig, auch musikalisch begleiteten Lesungen vorgestellt wurden. Für Al Khalisi ging es dann zwar etwas schneller, aber auch nicht ganz stolperfrei: Nachdem er sich beim Verlag erfolgreich für die Rechte an der deutschsprachigen Erstaufführung beworben hatte, machte er sich auf die Suche nach einer Schwarzen Schauspielerin, die sich darauf einlassen würde, das Stück gemeinsam mit ihm als Inszenierungsteam zu erarbeiten – und blitzte zunächst ab. Erst als seine Wege sich zufällig mit denen der Schauspielerin Samia Dauenhauer kreuzten, konnte die inszenatorische Arbeit am Stück beginnen. Dauenhauer sprach der Text zunächst aufgrund biografischer Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit in Bad Hersfeld an, wo sie in einem überwiegend weiß geprägten Umfeld aufwuchs – mit den von der Protagonistin im Stück beschriebenen Kindheitserinnerungen konnte sie sich also gut identifizieren.
Die Arbeit an der Inszenierung beschreiben beide als «gemeinsame Suche nach dem richtigen Weg», immer auch begleitet von der Angst, beim Thema Genozid «etwas falsch zu machen», Menschen möglicherweise zu verletzen. «Es ging häufig um die Frage, was überhaupt darstellbar ist, was man sagen kann – und was unsagbar bleibt», so Al Khalisi. Beide kämpften mit dem historischen Teil des Stücks, fanden aber dennoch Wege, der inhaltlichen Schwere immer wieder auch mit einer spielerischen Leichtigkeit und einem Humor zu begegnen, die man zunächst bei einem solchen Thema nicht vermuten würde. Eine entscheidende Frage war die der Perspektive – welche kann, welche darf man bei einem solchen Text einnehmen, was ist Ermächtigung, wo beginnt Anmaßung? Und welches Publikum will man wie erreichen? Dauenhauer geht es vor allem um das Schwarze Publikum, doch das Inszenierungsduo versucht selbstverständlich die gesamte Bandbreite möglicher Zuschauer*innen mitzudenken – ohne dabei eine bestimmte Gruppe zu «bedienen». Zu den Endproben hatten sie ein Schwarzes Testpublikum eingeladen. Lachend gesteht Dauenhauer, so nervös und aufgeregt, wie bei diesen Proben sei sie noch nie gewesen, auch nicht bei der Premiere wenige Tage später, Anfang Oktober 2022.
Doch auch nach der eigentlichen Premiere, noch auf der Premierenfeier, sei zu spüren gewesen, dass das Stück das Publikum erreichte. Die Reaktionen waren unterschiedlich, aber immer intensiv, die Zuschauenden hatten Redebedarf, richteten immer neue Fragen und Mitteilungen an die Schauspielerin – und in einer Begleitveranstaltung auch an die Autorin Alice Hasters, bekannt für ihren Longseller «Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten» (2019).
Auch die Übersetzerin des Stücks hatte zuvor schon bei öffentlichen Lesungen des Textes die Erfahrung gemacht, welch starke Reaktionen er beim Publikum auslösen kann. Denn viele Menschen in Deutschland haben von den deutschen Kolonialverbrechen, dem Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama, noch gar nichts oder nur wenig erfahren.
So wissen nur wenige, dass die ersten von Deutschen gebauten Konzentrationslager im damaligen «Deutsch-Südwestafrika» entstanden sind. Erst 2016 hat Deutschland den Genozid offiziell anerkannt, erst 2018 beschloss Berlin die Umbenennung mehrerer Straßen, deren bisherige Namensgeber Kriegsverbrecher aus der Kolonialzeit waren; in München war noch bis 2007 eine Straße nach General von Trotha benannt, der den Vernichtungsbefehl gegen die Herero und Nama erteilt hatte. Den Antrag auf Umbenennung der Straße versuchte die Stadtpolitik weitgehend zu ignorieren; ein CSU-Stadtrat witterte sogar vermeintliche äußere Beeinflussung des antragstellenden Beirats, weil er nicht glauben konnte, dass Afrikaner*innen so gut Bescheid wüssten über die deutsche Kolonialgeschichte: «Die dürfte da nicht so bekannt sein» ¹. Scheinbar ist sie das auch in Bayern bzw. Deutschland nicht – vielleicht auch kein Wunder, wenn in gängigen Schulbüchern noch thematisch einschlägige Aufgaben zu finden sind, bei denen die Schüler*innen dazu aufgefordert werden, die «positiven Auswirkungen» der deutschen Kolonisierung auf dem afrikanischen Kontinent aufzulisten.
Deutlich wird in dem Gespräch, dass das Stück in Deutschland nochmal einen ganz anderen Resonanzraum hat als in seinem Ursprungsland Frankreich, möglicherweise sogar direkter funktioniert, «umwegloser». Als französischer Text, so die Beobachtung, wird er jedenfalls nicht wahrgenommen, sicher auch ein Ergebnis der intensiven Übersetzungsarbeit Bühler-Dietrichs, die nicht nur historisches Vorwissen mit einbrachte, sondern vor allem darum bemüht war, die affektive Dimension des Textes zu wahren, und auch dem Verlagslektorat gegenüber immer wieder die Tonalität des Textes verteidigte, im Bewusstsein, dass an diesem Text vieles nicht einfach «weggeglättet» werden kann, sondern Härten im Text auch in der Übersetzung weiterbestehen müssen.
Theater also als Geschichts-Nachhilfeunterricht für die deutsche Mehrheitsgesellschaft? Scheinbar notwendig in einem Land, in dem die meisten Menschen noch in der Schule gelernt haben, dass Deutschland, im Vergleich zu anderen Ländern, keine besonders grausame Kolonialmacht gewesen sei, und kaum Bewusstsein dafür haben, wie die Kolonialzeit generell mit Rassismus in der heutigen Gesellschaft zusammenhängt.
Penda Diouf, die Autorin des Textes, hatte beim Schreiben natürlich eher die französische Gesellschaft im Blick, wo die Probleme mit dem strukturellen Rassismus jedoch ähnliche seien wie die in Deutschland, wie sie berichtet, auch wenn in den letzten Jahren eine Debatte stattgefunden habe, die vieles in Bewegung gesetzt, einiges verbessert habe. Die Autorin hat den Eindruck, dass Teilhabe leichter wird, und die Notwendigkeit wächst, auch andere Stimmen zuzulassen, andere Biografien und Geschichten zu hören.
Diouf selbst lebt in Lille, ihr Brotberuf ist Bibliothekarin – in St. Denis leitete sie einige Jahre die Stadtbibliothek. Ihre Theatertexte wurden bereits vielfach ausgezeichnet und in andere Sprachen übersetzt. In Deutschland ist ihr Stück «Die große Bärin» in einer Übersetzung von Yasmine Salimi in der von Lisa Wegener und Charlotte Bomy herausgegebenen Anthologie «Afropäerinnen» zu finden. Diouf ist außerdem Mitbegründerin des Labels «Jeunes Textes en Liberté», einem Theaterfestival für zeitgenössische, unterrepräsentierte Dramatik, leitet Schreibwerkstätten, setzt sich für einen besseren Zugang zum Theater für die gesamte Gesellschaft ein – Themen, zu denen es spannend gewesen wäre, mehr zu erfahren, doch die Gesprächszeit ist knapp. Diouf spricht über die von ihr für das Stück gewählte Form der Autofiktion, die ihr ermöglicht, individuelle Geschichte mit Kolonialgeschichte zu verknüpfen, wie wichtig es für sie außerdem war, eine afrikastämmige Figur auf die Bühne zu bringen, die «ich» sagen kann, also ihre Geschichte in der Ich-Form, aus ihrer eigenen Perspektive heraus erzählt. Zentrale Brücke in das Stück hinein sei der Raum der Kindheit, der durchschritten wird, die geschilderten Ausgrenzungserfahrungen, die dem Publikum die Identifizierung erleichterten – aber auch, um einen Gegenpol zur Gewaltgeschichte zu skizzieren, Dinge, die retten, die resilient machen, für die Autorin etwa die Literatur, aber auch der Sport. Die Autorin selbst spürte das volle Potential ihres Textes erst nach den ersten Lesungen in Frankreich und wollte ihm mehr Raum geben – 2019 wurde dann das Theaterstück in Vitry-sur Seine aufgeführt. Mittlerweile war der Text also in einigen unterschiedlichen Formaten zu erleben, vom Hörspiel über die zweisprachige oder die musikalische Lesung – kein Zufall, findet die Autorin, Thema und Text müssen immer wieder eine, ihre Form finden, um ihr jeweiliges Publikum zu finden – doch so erreicht das Stück auch Menschen außerhalb des üblichen Theaterpublikums.
Bei der weißen (nicht des Französischen mächtigen) Zuhörerin bleiben am Ende der ausführlichen Gespräche zur Entstehungsgeschichte von «Pisten» bestimmte Punkte und Fragestellungen besonders hängen. Zum einen fällt auf, dass heute, anders vielleicht als noch vor wenigen Jahren, die Frage, wer wen übersetzen, wer für wen sprechen, wer wen inszenieren darf, einen größeren Raum einnimmt. In diesem Fall ist es eine weiße Übersetzerin, die eine Schwarze Autorin übersetzt, ein männlicher Regisseur, der das Stück mit einer Schwarzen Schauspielerin auf die Bühne bringt – doch diese Konstellation wird nicht zuletzt von den Beteiligten selbst hinterfragt, möglicher Risiken und Konsequenzen ist man sich bewusst, sucht aktiv eine Form des Umgangs damit. Vertrauen ist immer eine wichtige Voraussetzung bei diesen Formen des künstlerischen Transfers, und in diesem Fall ganz besonders, wo es um unterschiedliche Erfahrungen geht, um die Gewalterfahrung Schwarzer Menschen, eine rassistische, von weißen Menschen ausgeübte Gewalt.
Sowohl Übersetzung als auch Inszenierung sind gelungen, das Vertrauen hat sich in diesem Fall bewährt, dennoch befremdet die Information, es gebe derzeit wohl keine afrikastämmige Übersetzerin, die aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, dennoch beschäftigt die Frage, warum die deutschsprachige Erstaufführung nicht vollständig in die Hände eines Schwarzen Teams gelegt wurde. Wie wichtig die Präsenz Schwarzer Menschen bzw. BiPoc auf der Bühne, wie wichtig die Repräsentanz ihrer Geschichten ist wird am Kommentar einer Premierenzuschauerin deutlich, die darauf aufmerksam macht, dass es das erste Mal ist, dass am Theater Münster eine Schwarze Schauspielerin in einer Hauptrolle zu erleben ist – und das im Jahr 2022!
Aus übersetzerischer Sicht wurde am Beispiel «Pisten» zum einen deutlich, welche wichtige Funktion Übersetzer*innen bereits beim Entdecken von Texten haben, wie groß mitunter ihr persönliches Engagement für Texte ist, an die sie glauben, ihr unermüdlicher Einsatz (über die eigentliche Übersetzungsarbeit hinaus), Autor*innen Gehör zu verschaffen, ein Publikum zu finden. Ein weiterer, enorm wichtiger Faktor, das wurde ebenfalls klar, ist die Zeit – sensible Übersetzungen anspruchsvoller Texte brauchen Zeit, Resonanzräume, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Autor*in und Lektorat – zu Recht wünscht sich Lisa Wegener zum Abschluss der Gesprächsrunde eine künftige Weiterführung der Diskussion, mehr Plattformen, mehr Austausch, mehr Vernetzung, Gespräche über Ressourcen, über Zeit und Räume, die Übersetzende noch stärker dabei unterstützen können, sich so voll und ganz auf eine Arbeit einlassen zu können, wie Annette Bühler-Dietrich auf Penda Dioufs «Pisten».
¹https://www.sueddeutsche.de/muenchen/umbenennung-von-strassen-ehre-wem-keine-gebuehrt-1.1731842, Abruf vom 17. November 2022
Sagbares und Unsagbares – Nachwuchssorgen im Bereich Theaterübersetzung?
Was ist sagbar, welche Erfahrungen lassen sich überhaupt in Worte fassen? Diese Frage beschäftigte auch die erste Gesprächsrunde, moderiert von Frank Weigand, am zweiten Nachmittag des festivalbegleitenden Online-Symposiums «Primeur Plus», diesmal im Rahmen des Austauschs über unterschiedliche Erfahrungen und Ansätze in der Lehre – ein in Literaturübersetzerkreisen generell derzeit aktuelles Thema, dank eines Gastdozenturen-Programms, das der Deutsche Übersetzerfonds mit Mitteln von «Neustart Kultur» für das Wintersemester 2022/23 nun bereits zum dritten Mal aufgelegt hat. Es ermöglicht und ermutigt Literaturübersetzer*innen zu Lehrangeboten im universitären Bereich, mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Zielgruppen. Auch viele Theaterübersetzende haben davon gebraucht gemacht, doch in diesem Bereich hat diese Form der Vermittlung und Weitergabe von Wissen nochmal eine ganz andere Relevanz – während sich «Literaturübersetzen» in Deutschland als grundständiges Studium absolvieren lässt, fehlten derartige Räume speziell für das Theaterübersetzen im deutschsprachigen Raum bisher so gut wie ganz, es gibt keinerlei formale Ausbildung, auch fehlt der theoretische Überbau.
Vor diesem Hintergrund diskutierten die Übersetzer*innen Jean-Louis Besson, Claudia Hamm, Brigitte Korn-Wimmer, Anna Opel und Frank Weigand in einer etwa eineinhalbstündigen Runde über fehlende Diversität und fehlenden Nachwuchs im Übersetzungsbetrieb, über prekäre Arbeitsbedingungen, Unterschiede im französischen und deutschsprachigen Raum. Wie sich ihren jeweiligen Biografien entnehmen lässt, sind sie dabei auf sehr unterschiedlichen Wegen zum Übersetzen allgemein und zum Theaterübersetzen im Speziellen gekommen und bringen demnach auch sehr unterschiedliche Expertisen in die Lehre mit. Brigitte Korn-Wimmer etwa war fast 30 Jahre lang Leiterin eines Theaterverlags, Frank Weigand ist u. a. Herausgeber einer Anthologie-Reihe von Theatertexten aus dem französischsprachigen Raum, Anna Opel Romanautorin, Claudia Hamm ist schon seit längerem als Dozentin tätig, auch als Mentorin des Georges-Arthur-Goldschmidt-Programms, Jean-Louis Besson übersetzt neben Theaterstücken auch theatertheoretische Texte, derzeit Hans-Thies Lehmanns «Tragödie und dramatisches Theater».
Frank Weigand machte zu Beginn des Gesprächs deutlich, dass das Nachwuchsproblem im Bereich Theaterübersetzung durchaus real ist: Bei der Sammlung von Stückübersetzungen (aus dem Französischen) für das Archiv der von ihm initiierten Seite plateforme.de fiel auf, dass die wenigsten Übersetzer*innen dabeibleiben, und kaum eine*r ist unter 40. Nicht-weiße Menschen sind in im Übersetzungsbereich die Ausnahme, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich.
In der Runde wurde angerissen, inwieweit diese bestehende Alters- und Sozialstruktur auch mit sozioökonomischen Bedingungen des Berufs zusammenhängt. Daraus hätte sich eine spannende und sehr notwendige, Debatte zum Thema ergeben können, doch es blieb bei einem eher vorsichtigen Benennen des Dilemmas: «Wie kann ich Menschen, seien es junge Studierende oder BiPoc, vom Übersetzer*innenberuf begeistern, wenn dieser unter den derzeitigen Bedingungen einen ziemlich direkten Weg in die Altersarmut darstellt?» (Brigitte Korn-Wimmer) – Nicht zur Sprache kommt dabei, dass gerade in den letzten 20 Jahren die prekäre Situation vieler Berufe in Kunst und Kultur zu einem Ausschlusskriterium für große Teile der Bevölkerung wurde. Zugespitzt formuliert: unterbezahlt zu arbeiten, muss man sich leisten können. Wo unbezahlte Praktika, Aufbaustudiengänge, Sprachkurse, Sommerakademien etc. Wege öffnen, bleiben sie denjenigen versperrt, die sich diese Form der Weiterbildung und des Netzwerkens schlicht nicht leisten können. Übrig bleibt eine eher homogene, sich selbst reproduzierende Gruppe weißer, meist eher aus bürgerlichen Kreisen stammender Menschen, die das zweifelhafte Privileg (und nicht selten im Zweifelsfall eine*n besserverdienende*n Partner*in oder eine Familie bzw. andere Einnahmequellen) haben, unter den schwierigen Bedingungen arbeiten zu dürfen.
Die inhaltliche Arbeit, Studierenden Wissen über Theaterübersetzen zu vermitteln, machte allen Gesprächsteilnehmern dagegen erkennbar viel Freude. Einig war man sich in der Gruppe weitgehend darüber, dass die lehrenden Personen selbst dabei ebenso viel lernen wie die Studierenden; dass Flexibilität in der Unterrichtsgestaltung wichtig ist, weil man sich auf ganz unterschiedliche Voraussetzungen einstellen muss, die unterschiedliche Studierende mitbringen. Das Vermitteln berufskundlicher Kontexte ist zentral. Theorie zum Übersetzen ist wichtig, nicht zuletzt, um ein gemeinsames Vokabular zur Verständigung zu finden, doch in der eigentlichen Übersetzungsarbeit am Text spielt sie keine Rolle. Es ist einerseits wichtig, Studierende zu ermutigen, andererseits aber auch klares Feedback zu geben, den Arbeitsstand eines Textes einzuordnen. Unterschiedliche Strategien in der Praxis können das Erproben von kollektiven Übersetzungsprozessen sein (die in der Berufspraxis so leider aus ökonomischen Gründen nicht möglich wären, aber ein Verfahren darstellen, das auch das Einbringen einer größeren Pluralität von Erfahrungen ermöglicht), das Vergleichen bestehender Übersetzungen, das Analysieren ungewöhnlicher Übersetzungen wie Jakob Noltes Übersetzung von Shakespeares «Sturm».
Claudia Hamm hob hinsichtlich des Theaterübersetzens die Bedeutung der «Stimme» als physisches Erlebnis hervor – ob man Stimmen oder Texte übersetzt, macht einen Unterschied, und ob diese Stimmen letztlich etwas sagen wollen, etwas sagen zu haben, kann darüber entscheiden, ob ein Text als «bühnentauglich» wahrgenommen wird. Für Übersetzende ist es wichtig, die Stimme eines Autors, einer Autorin zu hören, und dann mit der dazukommenden deutschen Stimme «abzustimmen».
Dass Übersetzer*innen, die selbst auch schreiben, der sprachschöpferische Aspekt der Arbeit dabei oft leichter fällt, stößt in der Gruppe ebenfalls auf allgemeine Zustimmung – auch wenn dabei wiederum oft die nötige Tiefe an Ausgangssprachkenntnis fehlt.
Mitbringen sollten angehende Übersetzer*innen auf jeden Fall Offenheit, Liebe zur Sprache, Liebe zur Literatur, ein Gefühl für Nuancen, eine Lust am Ausprobieren und Erproben des kreativen Potentials der eigenen Sprache, am Ausreizen ihrer Grenzen. Dazu ein dickes Fell und die Fähigkeiten, schnell Entscheidungen treffen zu können
Identitätspolitische Fragestellungen wurden in der Runde zwar angerissen, letztlich aber formuliert, dass dies eine Debatte sei, die auch auf einer breiteren gesellschaftlichen Ebene diskutiert werden müsse, da sie den Berufsstand der Übersetzenden übersteige.
Und das Fazit? Theaterübersetzende brauchen mehr Räume zum Austausch, mehr Vernetzung, mehr Organisation, und sie müssen sich dringend für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen einsetzen, wenn sie den Nachwuchs dauerhaft vom schönsten Beruf der Welt überzeugen wollen.
Miriam Denger ist freie Übersetzerin (aus dem Spanischen) und Dramaturgin. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft und Romanistik in Gießen und Pamplona. Nach einer theaterpädagogischen Zusatzausbildung in Berlin arbeitete sie einige Jahre als Dramaturgin und Theaterpädagogin fest an verschiedenen Häusern, u. a. in Meiningen und Konstanz. Auch als Übersetzerin begleitet sie Proben und Stückentwicklungen vor Ort und übertitelt Gastspiele für internationale Festivals. Das kubanische Theater und das Werk des Dramatikers Rogelio Orizondo ist dabei einer der Schwerpunkte ihrer übersetzerischen Arbeit. Sie lebt bei Landau in der Pfalz.
Die Hamburger Illustratorin Neele Jacobi bewegt sich irgendwo zwischen Idealismus & Humor. Ersteres hat viel damit zu tun, dass sie sich in ihrem Studium den Politik- und Kulturwissenschaften zugewandt hat. Und Humor ist bei ernsten Themen ja oft nicht verkehrt. Wenn sie also nicht gerade für Kund*innen arbeitet, die die Welt auf irgendeine Weise ein bisschen besser machen wollen, hält sie die Absurditäten des Alltags fest, wovon es ja bekanntermaßen auch genügend gibt.
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