Suzanne Emond, Frank Weigand und Maria Schneider im Gespräch über «Unter euch» «… als würde ständig der Boden unter deinen Füßen zusammenbrechen…»

vlnr: Nicole Averkamp, Sophie Frérard (im Vordergrund), Friedrich Witte und Thorsten Hierse in Suzanne Emonds Inszenierung von Thomas Deprycks «Unter euch» (Foto: Susanne Reichhardt)

Übersetzung auf dem Theater ist meist ein Hilfsmittel, manchmal auch ein Hindernis. In «Unter euch», einem Projekt am Theater Heidelberg, ist sie jedoch das eigentliche Thema. Gemeinsam haben die belgische Regisseurin Suzanne Emond, der belgische Dramatiker Thomas Depryck und der Übersetzer Frank Weigand einen Text und ein Inszenierungskonzept entwickelt, um das Gefühl kultureller Fremdheit auf den unterschiedlichsten Ebenen erfahrbar zu machen – und zwar mit einem deutsch-belgischen Ensemble. Vier Wochen vor der Premiere sprach die Dramaturgin Maria Schneider mit Suzanne Emond und Frank Weigand über die gemeinsame Arbeit, das kollektive Verlassen der Komfortzone und die Herausforderungen im Probenprozess.

 

Maria Schneider: Woher kennt ihr euch und wie ist die Idee zu dieser Zusammenarbeit entstanden?

Suzanne Emond: Frank und ich haben uns über einen Text von Thomas Depryck kennengelernt.

Frank Weigand: Das war «Der Reservist«, den ich 2015 für den Heidelberger Stückemarkt übersetzt habe, der dann auch den Internationalen Autor*innenwettberwerb gewonnen hat. Es schließt sich also ein Kreis. Ich glaube, das war der erste «deutsche» Text, den du in Deutschland inszeniert hast, Suzanne.

Suzanne: Ja, ich war auf der Suche nach einem deutschen Text, den ich mit dem Schauspieler Thorsten Hierse entwickeln konnte. Jemand aus Belgien hat mir dieses Stück gegeben. Ich kannte Thomas vorher nicht persönlich. Thorsten war damals am Deutschen Theater in Berlin engagiert, und wir haben den Text dort geprobt. Wir alle haben uns kennengelernt, als wir den «Reservist» als One-Shot in der Box des DT gezeigt haben. Ich fand es frappierend, dass der Text auf Deutsch viel gemeiner und härter war. Im Original hat das Stück eine selbstironische, ein bisschen pubertäre Albernheit.

Frank: Im Deutschen wirken zum Beispiel alle Schimpfwörter viel krasser. Natürlich kam vieles von der Wucht der deutschen Version auch daher, dass ich nur zehn Tage Zeit hatte, den Text zu übersetzen und mich daher für eine extrem effiziente Arbeitsweise entscheiden musste. Ich habe dem Stück damals – auch wegen seiner wirtschaftlich-sozialen Thematik – eine Art «Pollesch-Sound» verliehen, weil ich wusste, damit können deutsche Schauspieler*innen gut umgehen.

Suzanne: Ich war erstaunt, wie spielbar dieser Text auf Deutsch für deutsche Schauspieler*innen war.  Wir haben meine Inszenierung mehrmals wieder aufgenommen und ich glaube 25 Mal in Berlin gespielt und es war eindeutig, dass es auch für die Zuschauer*innen gut funktioniert hat. Die Leute haben das verstanden. Ich bin mir nicht sicher, ob es so gut funktioniert hätte, wenn die Übersetzung weniger «deutsch» gewesen wäre.

vlnr: Helge Gutbrod, Thorsten Hierse, Carla Weingarten in Suzanne Emonds Inszenierung von Thomas Deprycks «Der Reservist» (Foto: Dorothea Tuch)

Bleiben wir beim Thema Übersetzung. Normalerweise bekommst du also einen Text, Frank, und beschäftigst dich eine bestimmte Zeit lang alleine damit. Aber das ist bei «Unter euch» jetzt anders. Wie arbeitet ihr konkret zusammen?

Suzanne: Für mich als Theatermacherin, die nicht in ihrer eigenen Sprache arbeitet, war die Begegnung mit Frank sehr wichtig. Er hat nicht nur extrem gute Französischkenntnisse, sondern kennt auch die Theaterkultur, aus der ich komme, sehr gut. Ich habe mich immer sehr mit der Frage von Sprache, Mutter- oder Erstsprache und Theater beschäftigt. Und ich wollte schon lange ein Projekt zu diesen Themen entwickeln. Und als das Angebot des Heidelberger Intendanten Holger Schultze kam, am Theater und Orchester Heidelberg etwas Internationales zu machen, habe ich direkt daran gedacht, dass ich gerne ein Stück entwickeln würde, wo der Übersetzer und die Übersetzung Teil des Prozesses sind.

Frank: Das heißt, dass alles, was in einer extrem effizienten Übersetzung einfach verschwindet, hier offengelegt wird. Ich übersetze ja nicht nur Sprache, sondern auch eine spezifische Theaterkultur in eine andere. Auch ein dramaturgisches Denken, das im französischen oder frankophonen Kontext anders ist als im deutschen Kontext. Das macht es auf der einen Seite in diesem Prozess angenehmer, weil ich nicht den üblichen Effizienzdruck habe, der mich zwingt, eher die Zielsprache zu privilegieren und kulturelle «Problemstellen» einzuebnen. Im Gegensatz zur Übersetzung für einen Theaterverlag oder einer Übersetzung für eine Produktion, an der ich nicht beteiligt bin, wo also die Übersetzung kein «Problem» darstellen darf, kann und soll sie hier ein Problem sein.

Alles, was «komisch» klingt oder womit ich im Normalfall nicht glücklich wäre, weil es vielleicht noch zu nah am Original ist, ist hier hochinteressantes Material. Im Text gibt es zum Beispiel viele Sprichwörter oder idiomatische Redewendungen, die man nicht eins zu eins übersetzen kann. Und anstatt dann irgendwas zu erfinden, was im Deutschen schon irgendwie funktioniert, wo sich keiner mehr fragt, was da im Original stand, stellen wir ständig die Frage nach der Übersetzbarkeit im Allgemeinen.

Diese Frage lautet: Was ist eigentlich Übersetzen? Sollte eine Übersetzung überhaupt das Ziel haben, etwas Perfektes, absolut Verständliches zu produzieren, oder interessiert uns eher der Prozess des Übersetzens, das Wissen darum, dass der Sinn, der hier produziert wird, immer ein «gemachter» ist?

Suzanne: Ich wollte auch die Erfahrung vermitteln, wie es ist, in einem fremden Land zu sein, wenn man keine professionelle Übersetzerin ist, sich aber selbst übersetzen und ausdrücken muss. Unser Stück verbindet auf einer Theaterbühne zwei Themen miteinander, und zwar die Fragen nach Sprache und Kultur und die unmittelbare, fast körperliche Erfahrung des kulturellen Unterschieds.

Die belgische Schauspielerin Sophie Frérard in Suzanne Emonds Inszenierung von Thomas Deprycks «Unter euch» (Foto: Susanne Reichhardt)

Das Besondere ist, dass Frank jetzt relativ regelmäßig bei den Theaterproben dabei ist. Wie erlebst du diesen Probenprozess im Moment? Nimmst du da als Übersetzer eine besondere Rolle ein?

Frank: Ein Grund, warum ich diesen Beruf mache, ist, dass es natürlich immer unglaublich ist, wenn etwas, das auf dem Papier stand, plötzlich wirklich lebendig wird. Wenn aus Text echte Situationen oder magische Verbindungen zwischen den Figuren entstehen. Meine Anwesenheit hier ist auch die Möglichkeit, die Spielerinnen und Spieler in diesen Prozess miteinzubeziehen, sie also am Text mitarbeiten zu lassen.

Es gibt eine sehr altmodische Vorstellung vom Übersetzen als einsamer Tätigkeit, die auf das Theaterübersetzen gar nicht zutrifft. Ich arbeite immer für einen kollektiven Prozess. Selbst wenn ich zu Hause am Computer sitze, weiß ich, das Ganze wird dann noch von einem Kollektiv von Leuten bearbeitet. Deswegen ist es schön, vor Ort zu sein, und das in die Gespräche einzubringen, was ich mir beim «einsamen Übersetzen» so gedacht habe.

Suzanne: Das ist auch für die Inszenierung bereichernd. Wir brauchen dieses fast tägliche Gespräch mit Frank, weil wir auch das Spiel nicht in erster Linie effizient machen wollen. Das heißt, es ist eine ständige Anstrengung, herauszufinden, wie machen wir das?  Dass es ein schöner Abend wird, der rhythmisch funktioniert, aber der trotzdem offen bleibt, dafür ist die Anwesenheit von Frank sehr, sehr wichtig.

vlnr: Nicole Averkamp, Christian Crahay, Sophie Frérard, Thorsten Hierse und Friedrich Witte (im Vordergrund) in Suzanne Emonds Inszenierung von Thomas Deprycks «Unter euch» (Foto: Susanne Reichhardt)

Ich finde es spannend, dass man immer sagt, Theater ist Konflikt, aber man verbringt wahnsinnig viel Zeit im Prozess erstmal damit, die Konflikte verschwinden zu lassen. Trotzdem sind sie alle da. Wie ist es für dich, zweisprachig oder gar dreisprachig  zu arbeiten, Suzanne?

Suzanne: Ich glaube, die Mehrsprachigkeit in der Arbeitsweise gehört einfach zu diesem Stück. Ich könnte mir nicht vorstellen, so eine Arbeit nur in einer Sprache zu machen. Das würde keinen Sinn machen, weil die ursprüngliche kreative Idee ja dieser kulturelle Schock war. Jede Ebene dieses Prozesses muss ein bisschen anders sein als das, was wir sonst im Theater gewohnt sind.

Die Idee war auch, unterschiedliche Sprachen und Theaterkulturen auf der Bühne zusammenzubringen. Französisch sprechende Schauspieler*innen aus Belgien, die nicht nur kein Deutsch sprechen, sondern auch aus einer anderen Theatertradition kommen, auf Schauspieler*innen aus dem Heidelberger Ensemble treffen zu lassen. Ich navigiere also nicht nur zwischen zwei Sprachen, sondern auch zwischen zwei Theaterwelten, die irgendwie zusammenkommen sollen. Es soll Raum geben für alle.

vlnr: Friedrich Witte, Nicole Averkamp, Thorsten Hierse und Sophie Frérard in Suzanne Emonds Inszenierung von Thomas Deprycks «Unter euch» (Foto: Susanne Reichhardt)

Fühlst du dich bei dieser speziellen Arbeitsweise anders gefordert, Suzanne? Spürst du das irgendwie im Kopf oder im Körper?

Suzanne: Auf Deutsch kann ich alles machen, weil es nicht meine Muttersprache ist. Ich habe keine Grenze, auf Deutsch habe ich keine Angst. Es ist wie ein verrücktes Spiel und es kommt mir nicht so echt vor. Ich wundere mich immer, wenn ich mit einem deutschen Schauspieler zusammenarbeite und sehe, dass wir uns irgendwie verstehen. Ich weiß nicht, ob wir uns mit dem Kopf verstehen, aber wir können uns verständigen und etwas zusammen entwickeln, das funktioniert.

Deshalb interessiert es mich so, Theater auf Deutsch zu machen. Auf Französisch ist es stärker emotional verbunden und wird dadurch manchmal schwieriger. Jetzt reise ich zwischen beidem hin und her, also zwischen dem Spielerischen und dem Realen, zwischen dem Hochemotionalen und dem Instinkt.

Christian Crahay und Friedrich Witte in Suzanne Emonds Inszenierung von Thomas Deprycks «Unter euch» (Foto: Susanne Reichhardt)

Wir haben uns hier am Anfang sehr viel mit DeepL-Übersetzungen beschäftigt. Was haltet ihr von solchen Apps und Devices?

Frank: Es ist klar, dass das im Alltag unglaublich wichtig ist. Es ist toll, dass zum Beispiel Leute aus Fluchtkontexten mit ihrem Handy ganz einfach Leuten auf der Straße Fragen stellen können.  Diese Technologie gehört inzwischen zu unserem Leben dazu. Natürlich gibt es gerade in meinem Beruf eine massive Diskussion über die Verwendung von KI. Aber selbst da würde ich das nicht nur verteufeln.

Suzanne: Für mich haben diese Tools mein Leben verändert. Ein Tool wie DeepL, das es mir ermöglicht, dass ich sehr schnell einen Text in halbwegs korrektem Deutsch entwickeln kann, ohne dass mich das sechs Stunden kostet, ist wunderbar. Es ist auch ganz klar, dass man damit nicht alles machen kann, dass das eine Grenze hat. Aber genau diese Grenze hast du auch, wenn du eine Fremdsprache sprichst. Da kannst du nicht genau in eine präzise Sprache übersetzen. Du kannst nicht mit der Macht spielen, die du in deiner Sprache haben kannst, um zu wissen, wer oder was du bist.

Frank: Als Werkzeug ist DeepL eine tolle Sache. Aber im Detail ist es, politisch gesehen, total bedenklich. DeepL ist ja nicht wirklich intelligent, sondern fasst Bausteine zusammen, nach Regeln, die es aus den Datensätzen ableitet, mit denen es gefüttert wird. Die Sprache, die dabei herauskommt, ist keineswegs «neutral», sondern tendenziell eine weiße, männliche «Mehrheitssprache».

Auf der anderen Seite wird mit den Daten die Maschine trainiert, wenn man die kostenlose Version von DeepL verwendet. Das heißt, man wird selbst benutzt und macht Leute mit undurchsichtigen Geschäftspraktiken reicher. Trotzdem ist es natürlich ein tolles Werkzeug, das man mit der notwendigen Vorsicht durchaus benutzen kann. Man sollte sich nur bewusst machen, was dahintersteckt.

Friedrich Witte in Suzanne Emonds Inszenierung von Thomas Deprycks «Unter euch» (Foto: Susanne Reichhardt)

Warum ist Sprache oft so ideologisch? Immer ist da dieser Anspruch, sich zu «integrieren», was auch immer das sein soll. Man muss eine Sprache können. Man soll eine Sprache beherrschen. So ist das ja im Deutschen. «Eine Sprache beherrschen», als wäre das überhaupt möglich.  Und dann gibt es diese krassen Einteilungen. In «gute» Sprachen und «schlechte» Sprachen. Wann ist Mehrsprachigkeit gut? Wenn es um Englisch, Französisch oder Chinesisch geht? Oft wird Mehrsprachigkeit gar nicht als Kompetenz gesehen, besonders im Fall geflüchteter Menschen. So ist leider der deutsche Kontext. Was denkt ihr darüber? Warum ist das immer so aufgeladen?

Suzanne: Wir sprechen in dem Stück über Sprache und über kulturelle Unterschiede, aber aus einer sehr privilegierten Position. Es geht ja um Unterschiede zwischen zwei westeuropäischen EU-Staaten. Also ein Europa, das Austausch nicht nur zulässt, sondern ihn auch über Programme wie ERASMUS unterstützt. Leider hängt der Status deiner Sprache und der Wert deiner Kultur sehr stark davon ab, wo du herkommst. Manche gelten als wertvoll und andere nicht. Das ist das Schreckliche in unserer Welt.

Frank: Es ist immer alles eine Frage des Kontextes, und Sprache ist nie naiv. Unser Stück, das hauptsächlich die Probleme einer belgischen Figur zeigt, würde garantiert ganz anders gelesen, wenn wir es in Belgien zeigen würden und nicht hier vor deutschem Publikum. Dann werden plötzlich andere Sachen interessant, oder Dinge, die hier ganz stark wirken, wirken dort plötzlich viel zerbrechlicher und so weiter. Dadurch, dass man einen Kontext verschiebt, verschieben sich auch immer Machthierarchien. Und Sprache ist eben nie neutral, sondern immer mit einem Kontext und einem Machtgefüge verbunden.

Sophie Frérard und Thorsten Hierse in Suzanne Emonds Inszenierung von Thomas Deprycks «Unter euch» (Foto: Susanne Reichhardt)

Was haltet ihr von Denglish? Wir haben ja auch eine Szene in unserem Stück, in der das eine wichtige Rolle spielt. Also eine lingua franca aus Englisch, Französisch und Deutsch, die auch Suzanne und ich sprechen, wenn wir uns unterhalten.

Suzanne: Es ist, als würde man eine dritte Sprache sprechen. Für mich ich das so, als würde man Wörter aus zwei Sprachen nehmen, die man kennt und daraus eine dritte Sprache machen, die man fließend spricht. Es fühlt sich dann sehr angenehm an, zu sprechen, weil man auf einmal das Gefühl hat, dass man alles ausdrücken kann, wie man will.

Witzigerweise wären aber die einzigen Leute, die mein Englisch wirklich gut verstehen könnten, französische Leute, die die gleichen Deutsch- und Englischkenntnisse hätten wie ich. Und andere Gesprächspartner*innen würden sicher nicht alles begreifen. Das Schöne am Denglischen (oder Frenglischen?) ist, dass es dir das Gefühl gibt, du kannst fließend sprechen und deine Gedanken klar äußern. Dein Gehirn wird dabei nicht von der Beschränkung irgendeiner Gemeinschaft aufgehalten.

Frank: Ich glaube, das ist weniger eine Sprache, als im Grunde der Sprache gewordene Wunsch, miteinander zu kommunizieren. Dieses seltsame Englisch ist der Klassiker in bikulturellen Beziehungen, in denen beide Partner*innen nicht englische Muttersprachler*innen sind. Also erstens ein Hilfsmittel, aber zweitens eben auch ein Mittel, das dafür sorgt, dass keine*r die Oberhand hat, weil es für beide eine Fremdsprache ist. Es gibt dann auch extrem viele «Privatsprachen», die Elemente enthalten, die nur die beteiligten Sprecher*innen verstehen.

Suzanne: Ja genau. Die man mit Wörtern oder Begriffen aus anderen Sprachen entwickelt, die aus ganz konkreten Situationen kommen. Das ist eine Sprache, die man sich selbst erschafft, und das ist schön.

vlnr: Nicole Averkamp, Sophie Frérard, Friedrich Witte, Christian Crahay, und Thorsten Hierse in Suzanne Emonds Inszenierung von Thomas Deprycks «Unter euch» (Foto: Susanne Reichhardt)

Was beschäftigt euch im Moment am meisten, was unsere Produktion betrifft?

Suzanne: Mich beschäftigen im Moment zwei Dinge: Das eine ist die Frage der Sprachniveaus. Im Laufe des Übersetzungsprozesses hat Frank mich gefragt: Welche Sprache soll ich unserer Hauptfigur Manon geben, welches Deutsch? Und was erzeugt das für eine Wirkung?  Im Original von Thomas Depryck spricht sie auf einem sehr hohen Niveau Französisch. Das zeigt die Diskrepanz zwischen ihr und den anderen Figuren.

Aber was macht man damit, wenn man das ins Deutsche übersetzt? Wenn die Schauspielerin, die Manon spielt, eine deutsche Muttersprachlerin wäre, wäre es vielleicht sehr interessant, ein extrem hochsprachliches Libretto auf Deutsch zu machen. Aber in unserem Fall haben wir uns entschieden, Manon mit einer französischsprachigen belgischen Schauspielerin zu besetzen. Und dann macht dieses Hochdeutsch nicht so viel Sinn. Aber macht es Sinn, dass die Figur jetzt ein schlechtes Deutsch spricht? Oder ändert sich vielleicht ihr Sprachniveau von Szene zu Szene?

Das zweite ist die Erfahrung, die eine der Interviewpartnerinnen erwähnt hat, mit der wir für das Stück gesprochen haben: Sie hat gesagt, die Erfahrung, in einer anderen Kultur zu leben, sei so, als würde ständig der Boden unter dir zusammenbrechen. Das ist im Moment genau die Richtung, in die ich gehe. In der Inszenierung muss in jeder Szene irgendwie der Boden unter Manon zusammenbrechen. Sie denkt immer wieder, sie weiß Bescheid, sie hat Gewissheiten gefunden, und dann bricht wieder alles zusammen und ändert sich. Das sind meine zwei Sorgen im Moment.

Frank: Das mit dem Boden, der zusammenbricht, ist ein schönes Bild für die allgemeine Fragilität, die die ganze Produktion wie ein roter Faden durchzieht, durchziehen muss. In Bezug auf Spiel, Übersetzung, Inszenierung etc. muss hier immer alles anders gemacht werden, als man es sonst tut, da es sonst nicht funktioniert.  Ich zum Beispiel übersetze seit über 20 Jahren aus dem Französischen, aber ich habe in Frankreich studiert und hauptsächlich Leute aus dem franko-französischen Kontext übersetzt, und es gibt Stellen im Text von Thomas, wo ich einen ganz spezifischen belgischen Humor einfach nicht verstehe.

Es gibt wirklich Momente, wo ich nicht genau weiß, was ich da übersetze, und das würde ich in einem anderen Kontext zu verstecken oder aufzulösen versuchen. Und interessant wird das Ganze dadurch, dass wir ebendiese Schwierigkeiten zum Thema machen. Es geht, glaube ich, allen Beteiligten so, dass gerade das, was manchmal auch ein bisschen unangenehm ist, weil man die Komfortzone verlässt, im Grunde gut und wichtig für diese Arbeit ist.

Der belgische Schauspieler Christian Crahay in Suzanne Emonds Inszenierung von Thomas Deprycks «Unter euch» (Foto: Susanne Reichhardt)

Dieses Spiel mit der Komfortzone, dem Moment, wo einem die Dinge vielleicht entgleiten, erzeugt ja auch eine besondere Intensität. Habt ihr noch etwas, das ihr unbedingt über die Produktion sagen möchtet?
 
Frank: Mein Lieblingsthema ist eines, über das wir ständig reden: Suzanne sagt immer, es muss viel expliziter um das Thema Übersetzung gehen, und ich sage: Es geht die ganze Zeit um das Thema Übersetzung, weil wir die ganze Zeit in andere Medien, in andere Sprachen und oder Gedanken in Sprache übersetzen. Das ist einfach eine allgemeine Kulturpraxis, die alle Menschen ständig praktizieren. Ich habe manchmal ein bisschen Angst, dass diese übersetzerische Praxis in unserem Stück zu pädagogisch präsentiert wird und die Leute den Eindruck bekommen, wir wollen ihnen irgendetwas erklären. Dabei tun sie es doch ohnehin schon ständig selbst.

Suzanne: Da bin ich komplett anderer Meinung. Ich habe das Gefühl, dass dieses Stück zu sehr viel mehr Verständnis beitragen kann. Mein Ziel ist es auch, dass eine Person berührt wird, die gar nicht gewohnt ist, mit einer Fremdsprache umzugehen, die sich nur in einem deutschen Kontext aufhält und die sich nie die Frage gestellt hat, was bedeutet das eigentlich, sich wirklich in einer anderen Sprache auszudrücken – und wie sehr die Sprache bestimmt, was man von der Welt versteht und wie und wer man ist. Es wäre ein Wunsch von mir, dass diese Person wenigstens einen kleinen Eindruck davon bekommt.

Außerdem sprechen wir hier wie gesagt über einen sehr privilegierten Kontext. Über Westeuropa, über die Migration von sehr privilegierten Menschen in der Welt. Und deshalb wird der kulturelle Unterschied nicht gleich wahrgenommen. Unter privilegierten Menschen denkt man im Alltag nie daran, dass es zu kulturellen Missverständnissen kommen könnte. Dabei können diese zu sehr dramatischen Situationen führen.

Ich selbst hätte aus einem kulturellen Missverständnis heraus fast einen Kaiserschnitt bekommen. Weil die Ärzte gedacht haben: Diese Frau ist geistig nicht zurechnungsfähig genug für eine normale Geburt. Nur weil ich so viele Fragen gestellt habe. Und sie haben nicht verstanden, dass meine Fragen nur von meiner kulturellen Herkunft kamen. Wenn man kulturelle Unterschiede nicht erkennt, kann das zu sehr dramatischen Situationen führen. Und deswegen finde ich es sehr, sehr wichtig, darüber zu sprechen. Auch in diesem privilegierten Kontext.


 

UNTER EUCH – Je promène ma mélancolie parmi vous
Von Thomas Depryck / Deutsch von Frank Weigand
Uraufführung / Auftragswerk des Theaters und Orchesters Heidelberg

Regie:  Suzanne Emond
Bühne und Kostüme: Lana Ramsay
Musik: Tobias Vethake
Dramaturgie: Maria Schneider

Premiere am 21. Februar 2025 um 20 Uhr im Zwinger 1 des Theaters und Orchesters Heidelberg.

Weitere Vorstellungen und Reservierungen hier.

 


 

Die Regisseurin Suzanne Emond (Foto Martina Thalhofer)

Suzanne Emond ist Regisseurin, Schauspielerin und Autorin. Sie wuchs in Belgien und der Slowakei auf, ihre erste Sprache ist Französisch. 2007 schloss sie ihr Schauspielstudium an der Kunsthochschule ARTS² in Mons, Belgien, ab. Sie arbeitete zunächst mehrere Jahre als Schauspielerin zwischen Frankreich und Belgien, bevor sie 2012 ihr erstes Stück »Et devant moi, le monde« (»Und vor mir die Welt«) schrieb und inszenierte. Seitdem arbeitet Suzanne Emond hauptsächlich als Regisseurin und Autorin mit dem Schwerpunkt zeitgenössische Dramatik. Parallel dazu war Suzanne Emond von 2011 bis 2016 assoziierte Künstlerin des politischen französischen Tournee-Ensembles La Fabrique des Petites Utopie (Fabrik kleiner Utopien). 2017 erhielt sie ein Schreibstipendium von Wallonie-Bruxelles Internationale. Seit 2016 lebt sie in Deutschland. 2018 erhielt sie ein zweites Schreibstipendium, um am Programm 10/10 in Polen teilzunehmen, und schrieb in diesem Rahmen ein Stück für junges Publikum. In Berlin inszeniert sie »Der Reservist« von Thomas Depryck (2019) und »Season One« von Florence Minder (2021) im Theater unterm Dach. Im selben Theater präsentierte sie ihre gemeinsam mit der Dramaturgin Nora Haack entwickelte Theaterfassung des Romans »Die vierte Wand« von Sorj Chalandon (2022), mit einem Team von deutschen, belgischen, libanesischen, palästinensischen und syrischen Künstler*innen. 2021 bis 2023 spielte Suzanne Emond in Frankreich den Monolog »Und mehr gibt es nichts zu sagen« des Autors und Regisseurs Thierry Simon, eine Uraufführung für das Festival off d’Avignon uraufgeführt. 2023 wurde sie für ein Schreibstipendium und eine Residenz in Belgien ausgewählt. Im selben Jahr co-inszenierte sie in Brüssel »Descendre«, einen Text des belgischen Dramatikers François Badoud.

Die Dramaturgin Maria Schneider (Foto: Susanne Reichardt)

Maria Schneider wurde 1982 in Frankenberg/Sachsen geboren. Sie studierte 2001 bis 2007 Dramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie August Everding und der Ludwig Maximilians-Universität München. 2007 bis 2010 war Maria Schneider als Dramaturgin für Kinder- und Jugendtheater und Leiterin der Theaterpädagogik am Theater Augsburg engagiert, 2011 bis 2017 war sie als Dramaturgin für Schauspiel und Musiktheater am Theater Osnabrück tätig und übernahm für die Spielzeit 2015/16 kommissarisch die Leitung der Sparte Schauspiel. 2015 war sie Teil der künstlerischen Leitung des Osnabrücker Spieltriebe-Festivals für zeitgenössisches Theater, das sie auch für 2017 konzipierte. Seit 2018/19 arbeitet Maria Schneider als Schauspieldramaturgin am Theater und Orchester Heidelberg.

Der Übersetzer Frank Weigand (Foto: privat)

Frank Weigand, geboren 1973 in Stuttgart, Studium der Romanistik, Philosophie und Komparatistik in Mainz und Dijon, lebt als freiberuflicher Kulturjournalist und Übersetzer in Berlin. Bislang hat er rund 150 Theaterstücke hauptsächlich französischer und frankophoner Dramatiker sowie Sachbücher aus den Bereichen Soziologie, Philosophie und Performancetheorie ins Deutsche übertragen. Im Tandem mit seinen Kolleg*innen Leanne Raday, Doron Hamburger und Ciprian Marinescu übersetzt er außerdem Dramatik aus dem Hebräischen und Rumänischen. Seit 2011 gibt er gemeinsam mit der Regisseurin Leyla-Claire Rabih die Theateranthologie «SCÈNE – neue französische Theaterstücke» im Verlag Theater der Zeit heraus. 2021 initiierte er das Projekt PLATEFORME.

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