Ein Interview mit Erol M. Boran, dem Autor der Studie „Die Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts – Vier Jahrzehnte Migrantenbühne in der Bundesrepublik (1961-2004)“ Einheimische Kunst
Bereits im Jahr 2004 beendete der Literaturwissenschaftler Erol M. Boran seine Doktorarbeit «Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts – Vier Jahrzehnte Migrantenbühne in der Bundesrepublik (1961-2004)», ein bahnbrechendes Dokument, das ein Kapitel bundesdeutscher Theatergeschichte jenseits des offiziellen Kanons erzählt. Obwohl der Text seither zur Standardlektüre zahlreicher Forscher*innen gehört, ist er erst im letzten Herbst – 18 Jahre später – als Buch im Transcript-Verlag erschienen. Frank Weigand sprach mit dem Autor, der mittlerweile in Toronto lebt, über die Entstehungsgeschichte der Studie, die Gründe für die späte Veröffentlichung, biografische Hintergründe und die turbulenten Recherchen.
Frank Weigand: Deine Studie «Die Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts – Vier Jahrzehnte Migrantenbühne in der Bundesrepublik (1961-2004)» ist entstanden, als du selbst längst nicht mehr in Deutschland gelebt hast. Du hast den Text 2004 an der Ohio State University als Doktorarbeit eingereicht. Wie sah der Weg von der ersten Idee bis zur Umsetzung aus? Gab es dabei akademische Widerstände?
Erol M. Boran: An deutschen Universitäten hätte es wohl Widerstände gegeben, doch ich befand mich zum Glück in den USA, und da bekam ich im Gegenteil viel Zusprache und Unterstützung. Das lag daran, dass türkisch-deutsche Migrantenkunst schon damals an nordamerikanischen Universitäten mehr Interesse erweckte als in Deutschland. Und dann hatte es auch mit meiner Doktormutter Nina Berman zu tun, die im Bereich Orientalismus und Kolonialismus forschte und neuen Themen gegenüber offen war. Mein PhD-Studium war zweigeteilt: Ich habe an der University of Texas in Austin begonnen und bin Nina dann nach Ohio gefolgt, als sie dort eine Stelle annahm. Ich wollte unbedingt mit ihr weiterarbeiten, da sie fachlich und menschlich die ideale Betreuerin war. Allerdings plante ich ursprünglich, über türkisch-deutsche Erzählliteratur zu schreiben. Ich war damals schon von Emine Sevgi Özdamar fasziniert, kannte aber ihre Theaterstücke noch gar nicht. Und dann gab es diesen Aha-Moment, als ich einen alten Artikel von ihr in der ZEIT las, wo sie erwähnte, wie ihr erstes Theaterstück «Karagöz in Alamania» bei der deutschen Uraufführung von der Kritik übel verrissen und außerdem vom Intendanten ungefragt mit einer erklärenden Einleitung versehen worden war. Dieser Vorfall war der Auslöser für meine Beschäftigung mit dem türkisch-deutschen Theater, auch weil bis dahin noch niemand darüber geschrieben hatte.
Damals gab es ja in Deutschland eine Art brain drain. Die wenigen Akademiker*innen, die in den 90er Jahren aus einer migrantischen und oder marginalisierten Perspektive versucht haben, das Werkzeug der postcolonial studies auf die deutsche Situation anzuwenden, sind alle irgendwann abgewandert, in die Niederlande oder nach Großbritannien oder in die USA, weil sie hier einfach nicht reingekommen sind. Erst jetzt, fast eine Generation später, lehren Leute wie Azadeh Sharifi, die du auch in deinem Vorwort erwähnst, an deutschen Universitäten.
Das stimmt, aber da zähle ich mich selbst nicht dazu. In Deutschland hatte ich akademisch nicht mit türkischen Themen zu tun und ich verließ das Land auch nicht aus Frustration über den Mangel an migrantischen Themen, sondern weil ich mit dem hierarchischen deutschen Universitätssystem haderte. Bei diesem brain drain sprechen wir von Leuten wie Deniz Göktürk und Kader Konuk, die beide in Deutschland studierten, dann aber Anstellungen an US-Universitäten fanden. Zumindest Konuk ist inzwischen aber wieder in Deutschland tätig. Und Azadeh Sharifi repräsentiert die nächste Generation. Ihr habe ich es übrigens zu verdanken, dass meine Doktorarbeit jetzt in Buchform veröffentlicht wurde. Ich hatte nämlich das Glück, dass es sie als DAAD-Gastprofessorin an meine Universität in Toronto verschlug. Ich kannte sie vorher nur namentlich, aber sie hatte meine Arbeit genau gelesen und sie seit Jahren anderen Forscher*innen weiterempfohlen. Als wir uns dann erstmals im Gang meines Instituts begegneten, war das ein besonderer Moment für mich. Sie nannte meine Arbeit ein wichtiges Zeitdokument, und ihre Begeisterung war ansteckend und führte mir nochmal vor Augen, wie wichtig das war, was ich damals geleistet habe.
War dir damals schon bewusst, wie wichtig deine Arbeit war? Sie erzählt ja eine Art Theatergeschichte jenseits des offiziellen deutschen Kanons, in der du historische, gesellschaftliche und ästhetische Zusammenhänge aufzeigst.
Während ich daran arbeitete, wurde mir schnell klar, wie wichtig es war, diese bislang unerzählte Geschichte zu schreiben. Und ich fühlte mich bald auch allen Beteiligten gegenüber verpflichtet, sie zu veröffentlichen, denn sie leisteten wertvolle kulturelle Arbeit quasi ganz im Verborgenen. Leider ist das dann aus persönlichen Gründen nicht geschehen. Eine Kurzversion meines Kabarett-Kapitels habe ich 2005 zwar noch auf Englisch veröffentlicht, aber dann zog ich gleich nach der Verteidigung meiner Dissertation nach Griechenland und beschäftigte mich einige Jahre lang mit völlig anderen Dingen. Immerhin war meine Arbeit von Anfang an online erhältlich, und es war mir auch bewusst, dass sie über die Jahre immer wieder zitiert und für Forschungsarbeiten herangezogen wurde. Aber Azadeh betonte bei unserer Begegnung, dass sie die Arbeit trotzdem ständig weiterleiten muss, weil sie schwer zu finden sei. Und dann hat sie mich davon überzeugt, sie jetzt noch in Buchform, vor allem aber in Open Access online zu publizieren. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.
Gab es damals Reaktionen und gibt es heute welche, jetzt, wo das offizielle Buch erschienen ist?
Ja, es gab Reaktionen, damals wie heute. Nach meiner Ankunft in Toronto nahm ich an vielen Konferenzen teil. Und 2009 wurde ich sogar als Experte in einer Talk-Runde zu dem Festival «Lach dich deutsch! Integration durch Lachen?» nach Essen eingeladen. Anschließend interviewte mich die türkische Zeitung Hürriyet und stellte mich den Leser*innen dann witzigerweise als erfolgreicher türkischer Intellektueller im Ausland vor. In Toronto war ich anfangs also durchaus bemüht, an meine Dissertation anzuknüpfen, doch über die Jahre merkte ich dann, dass mir meine Position nicht viel Zeit für Forschung und Publikationen ließ. Und so konzentrierte ich mich gezwungenermaßen auf meine Lehrtätigkeit. Und weil ich nichts veröffentlichte, ließ das Interesse an meiner Person allmählich nach. Nach der Buchpublikation ist es jetzt wieder erwacht. Meistens muss ich ablehnen, und das schmerzt besonders bei so wichtigen Projekten wie «Diversity Arts Culture» des Berliner Projektbüros für Diversitätsentwicklung. Doch ich bin zufrieden damit, dass wenigstens meine frühere Arbeit jetzt wieder mehr im Blickpunkt steht und leichter zugänglich ist.
Wie du ja auch in der Einleitung schreibst, endet deine Studie zu einem unglaublichen Zeitpunkt, nämlich im Jahr 2004, als Fatih Akin gerade «Gegen die Wand» abgedreht hat. Also kurz bevor Shermin Langhoff den Begriff «postmigrantisches Theater» prägt und die Kunst, deren Geschichte du erzählst, in der deutschen Hochkultur wahrgenommen wird. Das fängt an mit «Gegen die Wand», geht dann weiter mit dem Ballhaus Naunynstraße und schließlich dem Maxim Gorki Theater.
Stimmt, ich habe sozusagen die Vorgeschichte zum postmigrantischen Theater geschrieben. Und mit beiden Projekten, die du da erwähnst, war ich mehr oder weniger verbunden. Im Ballhaus hielt ich mich damals ständig auf, habe Aufführungen besucht und mit Künstler*innen gesprochen. Zwar war das, bevor Shermin Langhoff sowohl die Themen als auch die Beteiligung weit über einzelne Communities hinaus ausweitete, aber das hat sich damals schon angedeutet, etwa durch die Beteiligung des Ballhauses am Diyalog Festival. Und auch an «Gegen die Wand» war ich nah dran, denn ich lernte damals Akins Hauptdarsteller Birol Ünel gut kennen, da wir ständig im gleichen Café rumhingen. Er wollte mich unbedingt zu den Dreharbeiten nach Hamburg mitnehmen, und ich war drauf und dran, doch dann kamen einige Interviews dazwischen, und da mein Fokus auf der Bühnenarbeit lag, sagte ich Birol letztlich ab. Das wurmt mich bis heute, denn so lernte ich Akin erst Jahre später kennen, als ich ihn im Rahmen des TIFF Festivals am Goethe Institut interviewte.
Bei ihrem ersten Festival «Beyond Belonging» 2007 im HAU hatte Shermin Langhoff hauptsächlich türkisch-deutsche Film-Regisseur*innen dazu eingeladen, ihre ersten Theaterproduktionen zu machen. Meine Wahrnehmung war damals tatsächlich, dass es kein türkisch-deutsches Theater gab, sondern dass sie diese Leute holen musste.
Natürlich gab es damals türkisches Theater in Deutschland. Aber das Ganze war stets auch eine ideologische Frage: Was wird als professionell anerkannt und was nur als Laienarbeit angesehen? Heute wissen die wenigsten, dass es unter Peter Stein an der Schaubühne von 1979 bis 1984 ein türkisches Ensemble gab. Aber auch da ging es um Machtstrukturen, und es stellte sich die gleiche Frage: Mit wem arbeitet man zusammen? Damals ließ sich wohl noch eher behaupten, dass man, wollte man mit Profis arbeiten, Künstler*innen aus der Türkei holen musste. Denn in Deutschland gab es zwar gute türkische Schauspieler*innen, doch als professionell konnte man die nicht bezeichnen. Wie auch? Da fehlte einfach der institutionelle Rahmen. Und so wurden auch damals an der Schaubühne Leute aus der Türkei geholt, und so kam es zu Enttäuschungen und Grabenkämpfen.
In deinem Buch nehmen solche Streitigkeiten und Verteilungskämpfe ziemlichen Raum ein. Emblematisch dafür steht die Debatte um das einzige aus öffentlichen Mitteln geförderte türkische Theater in Berlin, das Tiyatrom. Auf der einen Seite wurde es so niedrig subventioniert, dass es fast unmöglich war, professionell zu arbeiten, auf der anderen Seite gab es erbitterte Streitigkeiten über die künstlerische Ausrichtung. Beim Lesen denkt man sich manchmal, vielleicht hätte das alles eine andere Richtung nehmen können, wenn sich die Leute weniger untereinander gestritten hätten.
Ich erkannte damals schnell, dass die deutsche Förderpolitik ihren Teil dazu beigetragen hat, dass es so schwierig war für migrantisches Theater. Aber gleichzeitig muss man sagen, dass diese Theaterschaffenden es auch ihrerseits nie wirklich geschafft haben, sich zusammenzuraufen. Da gab es stets interne Machtkämpfe, die der Entwicklung im Weg standen. In meinen Gesprächen musste ich damals sehr behutsam vorgehen, und mir kamen dabei äußerst konträre Sachen zu Ohren. Ich versuchte, Distanz zu bewahren, während ich gleichzeitig natürlich auch in die Entwicklung mit reingezogen wurde. Ich beschreibe das im Vorwort zu den Interviews, die ich jetzt erstmals im Anhang meines Buches veröffentlicht habe. Der Titel lautet nun übrigens leicht abgeändert «Die Geschichte» statt «Eine Geschichte». Dieser unbestimmte Artikel war mir damals wichtig, denn mir war stets bewusst, dass jede*r die Geschichte etwas anders erzählt, andere Schwerpunkte gesetzt und etwas andere Aspekte aus den Interviews betont hätte. Meine Geschichte sah ich also nur als eine von vielen möglichen Geschichten. Als ich dann aber die Buchpublikation vorbereitete, überredete mich der Verlag dazu, den Titel zu ändern, denn mittlerweile sind 20 Jahre vergangen, ohne dass jemand eine andere Version geschrieben hätte. Dieses Argument überzeugte mich, auch weil die Materialien, die ich benutzte, heute teils gar nicht mehr zugänglich sind.
Du betonst, dass der Gegenstand deiner Forschung «einheimische Kunst» ist. Insofern ist dein Buch eigentlich auch eine Geschichte der Bundesrepublik?
Es geht in meinem Buch nicht nur um Theater, sondern um die gesamte Gesellschaft. Es gab da Ende der 90er Jahre diesen «Fall Mehmet», wo ein jugendlicher Krimineller mit türkischen Eltern einfach so in die Türkei abgeschoben wurde. Er war aber in München geboren und aufgewachsen. War er also nicht ein Produkt dieser Gesellschaft? So wie die Künstler*innen in meinem Buch eben auch. Natürlich machen die einheimische Kunst. Schon der Pionier des türkisch-deutschen Theaters, der Autor und Theatermacher Yüksel Pazarkaya, hat stets betont, dass all das zu Deutschland gehöre. Aber die Mehrheitsgesellschaft hat das damals so nicht wahrgenommen.
Als ich den Titel «Türkisch-deutsches Theater und Kabarett» gesehen habe, habe ich zunächst über das Genre Kabarett gestutzt. Da haben wir traditionelle Hochkultur auf der einen und eine eher kommerzielle Kultur auf der anderen Seite. Wie kamst du dazu, zwei derart unterschiedliche Szenen zusammenzufassen?
Nun, all das lässt sich unter dem Begriff ‚Bühnenproduktionen‘ zusammenfassen. Das Kabarett war im türkisch-deutschen Kontext auch deshalb extrem wichtig, weil die Förderungen für türkische Theatergruppen gering waren und es die Möglichkeit bot, ein größeres Publikum zu erreichen und durch die Einnahmen unabhängig von öffentlicher Förderung zu arbeiten. Aber es war nicht so, dass es von Anfang zu einer Explosion dieser Bühnenform kam. Da gab es die zwei Gründerväter Şinasi Dikmen und Muhsin Omurca, die 1985 das Kabarett Knobi-Bonbon gründeten, und dann ab 1990 noch zwei Frauengruppen. Und die hatten zwar Erfolg und tourten viel, doch erst mit der Ethno-Comedy Ende der 90er Jahre mit Leuten wie Kaya Yanar und Bülent Ceylan wurde das alles massentauglich. Was ich am Kabarett so interessant finde, ist, dass es in jedem Land eigene Formen annimmt, und in Deutschland ist es eben besonders stark von der politisch-satirischen Tradition beeinflusst, die von der Weimarer Republik bis zu «Scheibenwischer» reicht. Das ist eine typisch deutsche Kunstform. Und eine anspruchsvolle. Künstler wie Dikmen und Omurca standen der trivialisierenden Form der Comedy vor allem anfangs sehr ablehnend gegenüber und sahen sich selbst klar in einer literarischen und intellektuellen Tradition.
Im Gegensatz zur offeneren Kabarettszene wirkt die Institution Theater in Deutschland zur Zeit deiner Studie extrem hermetisch. Als gäbe es einen Begriff deutscher Kultur, einen deutschen Kanon, der sich gegen alles andere abgrenzt.
So eine Vorstellung gibt es tatsächlich, aber das betraf nicht nur das Theater. Begonnen hat der Kampf im Theater mit den Verrissen von Özdamars Aufführung. Aber diese teils äußerst fremdenfeindlichen Reaktionen haben sich dann Jahre später wiederholt, als sie auch die literarische Bühne betrat. Als sie 1991 beim Bachmann-Preis Wettbewerb aus ihrem Roman «Das Leben ist eine Karawanserei» vorlas, gab es vergleichbar problematische Reaktionen. Und auch im Filmbereich gibt es solche Beispiele. Dieses Schubladen- und Kastendenken findet man also in jedem Bereich, das ist wirklich nicht aufs Theater beschränkt.
Du findest in dem Buch ständig ein feines Gleichgewicht. Trotz aller Kritik an der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird es niemals platt militant, da du alles durch formale Analysen auffängst. Es gibt zum Beispiel die Rückbesinnung auf traditionelle Formen des türkischen Theaters, dann wieder auf Brecht und die Weimarer Republik.
Es freut mich, wenn das so rüberkommt. Hier sollte ich vielleicht einige Worte zur Struktur meiner Arbeit sagen. Im Rahmen der Dissertation hatte ich Vorgaben zu erfüllen. Es war meiner Doktormutter wichtig, dass ich einen relativ weiten Bogen ziehe und verschiedene Kontexte aufarbeite, etwa das Türkenbild in der deutschen Gesellschaft, also nicht nur in der Kunst. Ein weiterer Bereich, den ich nicht gleich im Blick hatte, der dann aber relevanter wurde als erwartet, war der Theaterkontext in der Türkei. Ich hätte anfangs fast den gleichen Fehler begangen wie Özdamars engstirnige Kritiker, nämlich türkisch-deutsches Theater zu betrachten, ohne mich ausreichend mit türkischen Theaterformen auszukennen. Da hat mir Pazarkaya viel geholfen, durch seine Texte und auch durch unsere vielen Gespräche. Und diese beiden Bereiche, die deutschen Türkenbilder und das Theater in der Türkei, behandelte ich dann in meinen ersten zwei Kapiteln. Erst danach erzähle ich die Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und des Kabaretts und verweise dabei besonders oft auf das zweite Kapitel. Wie zentral türkische Theatertraditionen sind und wie kreativ gerade Özdamar sie mit dem deutschen Kontext vermischte und hybride Formen hervorbrachte, lässt sich auch daran ermessen, dass ich dank eines Vortrages mit dem Titel «Wie Brecht in die Türkei ging und mit Karagöz unterm Arm wieder zurückkam» meine Stelle in Toronto bekam. Diese wechselseitige Befruchtung zwischen dem epischen Theater und dem episch angehauchten türkischen Schattenspiel ist auch bei anderen Theaterprojekten und sogar im Migrantenkabarett von zentraler Bedeutung. Solche Themen haben mir dabei geholfen, mich nicht in leidigen Diskussionen darüber zu verfangen, wie sehr das türkisch-deutsche Theater doch benachteiligt oder unterdrückt wurde und wie schwierig es für seine Akteur*innen war, sich im deutschen Kulturkontext zu etablieren.
Der im Buch veröffentlichte Text ist im Wesentlichen der von 2004. Vieles würde man heute anders formulieren. Warum hast du auf sprachliche Updates verzichtet?
Ja, die Begrifflichkeiten haben sich seither weiter verändert. Aber auch damals waren sie schon kontrovers. Ich versuchte, das zu reflektieren, aber zuletzt entschied ich mich dafür, alles möglichst direkt zu benennen. Heutzutage müsste man sprachlich sicher sensibler vorgehen, doch meine Publikation will ja in erster Linie ein Zeitdokument sein. Also wollte ich weder inhaltliche noch sprachliche Modifikationen vornehmen. Abgesehen von offensichtlichen Tippfehlern änderte ich also relativ wenig.
Wie genau liefen denn damals deine Recherchen ab?
Ich nahm von Ohio aus mit verschiedenen Leuten Kontakt auf und führte auch ein Telefoninterview mit Özdamar. Aber es war natürlich etwas ganz anderes, dann mit einem Jahresstipendium in Berlin anzukommen. Ich kannte die Stadt zwar und hatte dort auch schon unterrichtet, trotzdem musste ich mich erst einmal orientieren. Dazu gehörten Recherchen in Archiven ebenso wie Theaterbesuche und Treffen mit Kunstschaffenden. Aber zunächst fehlten mir die rechten Kontakte. Meine ersten Schritte waren fast schon etwas zufällig. Da suchte ich etwa nach einer Wohnung in Kreuzberg und hängte dazu eine Anzeige im Café Alibi in der Oranienstraße auf. Und dann meldete sich tatsächlich jemand, der zwar letztlich keine passende Wohnung für mich hatte, mir dafür aber erste Kontakte ermöglichte. So kam es zu meinem Interview mit Mürtüz Yolcu, dem Gründer und Organisatoren des Diyalog Festivals, das später sehr wichtig für meine Arbeit wurde. Es war also sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil, von außen reinzukommen und erstmal etwas orientierungslos drinzusitzen. Und recht schnell merkte ich, wie so manches zusammenhing und wen ich als nächstes treffen musste. Bald plante ich auch Reisen nach Köln und Ulm, aber hauptsächlich blieb ich in Berlin, saugte die Atmosphäre auf und sprach mit Leuten. Es war eine wahnsinnig intensive Zeit – und im Jahr darauf war ich wieder weg.
Wie war es für dich, nach Deutschland zurückzukehren?
Es war anders, nicht zuletzt, weil ich nie zuvor richtig in Berlin gewohnt hatte. Ursprünglich komme ich aus einer Kleinstadt in Mittelfranken. Berlin bot mir die Gelegenheit, mich anders mit der türkischen, aber auch mit der deutschen Kultur auseinanderzusetzen. Mein Vater stammt aus der Türkei. Er kam bereits in den späten 50ern, also noch vor dem Anwerbevertrag von 1961, zur Ausbildung nach Deutschland, rannte in Erlangen in meine Mutter hinein und strandete dann in dieser Kleinstadt, in der ihre Familie wohnte. Und da mein deutscher Großvater einen Betrieb besaß, entstand dort in den 60er, 70er Jahren eine Enklave türkischer Gastarbeiter. So bin ich aufgewachsen, mit einem türkischen und einem deutschen Bein. Wir sind jeden Sommer in die Türkei gefahren – drei Tage hin und drei Tage wieder zurück, diese typischen Geschichten – und zwischendrin waren mein Bruder und ich die einzigen blonden inmitten dunkelhaariger Kinder. Türkische Künstler*innen und Intellektuelle kannte ich bis zu meiner Würzburger Universitätszeit gar nicht. Da studierte ich dann aber nichts Türkisches, sondern anglo-amerikanische und deutsche Literatur. Und parallel dazu machte ich Theater – praktisches Theater, denn studiert habe ich das nie. Ich war Teil der Amateurtheaterszene und gründete zwei eigene Gruppen. All das half mir später enorm, als ich in Berlin ankam: Meine halbwegs türkische Herkunft, mein einigermaßen verständliches Türkisch und mein Theaterhintergrund öffneten mir so manche Tür. Ich wurde aufgenommen wie ein Bruder – und hin und wieder versuchte man auch, mich so zu vereinnahmen. Aber auch hier verstand ich es, mit einem Bein draußen zu bleiben.
Eine sehr wichtige Figur in deinem Buch ist Emine Sevgi Özdamar. Sie nimmt eine Art Sonderstatus ein.
Stimmt, sie hat eine völlig andere Geschichte als die meisten Künstler*innen mit Migrationsgeschichte. Sie sieht sich auch gar nicht als Migrantin, sondern als Kosmopolitin. Sie war zwar in jungen Jahren auch eine Zeitlang als Gastarbeiterin in Berlin, später aber kam sie als Künstlerin wieder. Man muss darauf bestehen, dass es solche alternativen Geschichten gibt, weil sonst nämlich alle Gastarbeiter oder alle türkischen Migranten über einen Kamm geschoren werden. Özdamar hat sich da freigekämpft. Das gilt übrigens auch für Pazarkaya, der 1958 als Student kam und später sogar promovierte. Auch mein Vater sieht sich nicht als Gastarbeiter. In seinem Verständnis ist er noch nicht einmal nach Deutschland immigriert, obwohl er jetzt schon seit 65 Jahren hier lebt. Alle diese Menschen wollten und wollen sich einfach nicht subsumieren lassen.
Hat deine türkisch-deutsche Herkunft für dich eine Rolle bei der Beschäftigung mit dem Thema gespielt?
Zunächst weniger. Ich hatte eigentlich irgendwann das Gefühl, meine türkische Herkunft hinter mir gelassen zu haben. Ich blieb der Türkei fern, hatte keine türkischen Freunde mehr und studierte alles Mögliche, nur nichts Türkisches. Allerdings interessierte ich mich immer schon für die Darstellung von Andersartigkeit. Meine Magisterarbeit handelte von Vampiren in der anglo-amerikanischen Literatur. Und nachdem ich ausgewandert war, gewann ich eine interessante neue Perspektive auf Deutschland. Man wird im Ausland ja schnell zum Repräsentanten seiner Kultur. Und als «the German guy» begann ich dann, mich mehr mit meiner doppelten Herkunft zu befassen. Biografisch bedingt war auf alle Fälle mein Wunsch, nicht zu akademisch zu klingen. Es war mir wichtig, die türkisch-deutsche Theatergeschichte so zu schreiben, dass auch ein Laie sie verstehen kann, und auch jemand, für den Deutsch nicht die Muttersprache ist. Beim Schreiben war mein Vater mein impliziter Leser, deshalb habe ich ihm die Arbeit auch gewidmet.
Eine Art Hintergrundrauschen zu deiner Studie bilden die rassistischen Staatsbürgerschafts- und Integrationsdebatten der 1990er und 2000er-Jahre und die Anschläge von Solingen oder Mölln … Immer wieder wird deutlich, wie stark marginalisiert die Künstler*innen waren, über die du schreibst. Hast du das selbst auch so empfunden?
Das war ein Bewusstsein, das ich mir erst erarbeiten musste. Denn anders als die türkischen Freunde meiner Kindheit hatte ich immer die Wahl, da ich perfekt Deutsch sprach, blond war und auch so typisch deutsch aussah: Ich konnte unter Türken sein und das auch normal finden, mich dann aber auch opportunistisch abwenden und den Deutschen anschließen. Und mit 16 hörte ich dann auf, im Sommer in die Türkei zu gehen. Trotzdem merkte ich im Laufe der Jahre immer mehr, wie prägend es war, dass ich zwar nicht in einem traditionellen Kontext, aber doch als Sohn eines türkischen Vaters aufgewachsen bin. Im Vergleich zu anderen «Türkenkindern» führte ich zwar ein privilegiertes Leben, aber vermutlich war es mir deshalb wichtig, dass die Menschen in meinem Buch ihre eigenen Geschichten haben und diese Geschichten nicht übersehen oder vergessen werden dürfen. Aus diesem Geist wurde das gesamte Projekt geboren.
Kanada ist ja ein ganz anderes Einwanderungsland als Deutschland. Und Toronto gilt als die multikulturellste Stadt Nordamerikas. Wie ist das Leben als Immigrant dort im Vergleich zu den Debatten, die du aus Deutschland kennst?
Es ist tatsächlich so, dass in Toronto Leute aus allen möglichen Ländern wohnen und hier nicht so ein Assimilierungszwang herrscht, wie man ihn aus Deutschland kennt. Hier scheint eine kulturelle Offenheit zu herrschen. Dabei ist es nicht so, dass es in Kanada keine Diskriminierung gäbe. Toronto ist eine Großstadt, auf dem Land sieht es aber auch hier etwas anders aus. Wenn man dazu noch bedenkt, wie Kanada vor nicht zu langer Zeit die eigene Indigene Bevölkerung behandelt hat, merkt man, dass auch hier nicht alles im Reinen ist. Und doch hat man allgemein weit weniger das Gefühl, sich an etwas anpassen zu müssen. Erfreulicherweise hat sich aber auch in Deutschland inzwischen einiges bewegt. Als jemand, der regelmäßig hin und herpendelt, sehe ich fast wie im Zeitraffer, dass sich die Dinge auch dort weiterentwickeln.
Buchausgabe und open access-pdf beim transcript-Verlag
Erol M. Boran ist Associate Professor am Department of Germanic Languages and Literatures an der University of Toronto. Er lehrt deutsche Literatur und Kultur mit dem Schwerpunkt Migrant*innen-Theater.
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