Die Autorin Françoise Dô aus Martinique lädt zu einer Reise durch Sprachen und Redeweisen ein HNO

In ihrem poetischen Text für PLATEFORME stellt Françoise Dô die Frage nach der Weitergabe einer Geschichte zwischen unterschiedlichen Sprachen und untersucht ihre eigene Mehrsprachigkeit ausgehend von dem Körper, mit dem sie die Welt erlebt. Wie kann die eigene Stimme Meere und Kontinente überwinden? Wie können Gedanken Widerhall finden und sich auf der Bühne, in Büchern und in der Welt ausdrücken? Es genügt, den Mund zu öffnen, sagt die Künstlerin.

 

Die Autorin Françoise Dô (Foto: George-Emmanuel Arnaud)

 

Aus meinem Mund
Kann ein und derselbe Gedanke zu zwei Wortgruppen werden

Und jedes Mal, wenn meine Zunge
In meinem Mund
Das Zünglein an der Waage spielt
Können dabei
Zwei Arten von Lauten
Zwei Gruppen von Sätzen
Herauskommen
Vollkommen unterschiedlich
Für ein und dieselbe Sache
Die ich gedacht habe und die ich aussprechen will

Und jedes Mal
Ist sogar der Klang anders
Es überrascht mich
Dass mein einer Mund so unterschiedliche Laute hervorbringen kann

Und jedes Mal
Ist jeder der beiden Sätze vollkommen wahr
Gibt vollkommen wieder
Was ich denke
In einer wahren wahrheitsgemäßen Wahrheit:
In meinem Mund habe ich zwei Zungen

Ich habe also zwei Zungen in meinem Mund, die nebeneinander existieren
Man fragt mich oft, welche mir die liebste ist
Welche am besten zu mir passt
Welche meine wahren Gedanken zum Ausdruck bringt
Welche meine einzigartige Einzigartigkeit zu übersetzen vermag
Mein innerstes Wesen
Die mich zu einer einzigartigen, perfekt beschreib- und bekritzelbaren Einheit machen würde
Oft verlangt man von mir, eine der beiden herauszustrecken
Eine, die die vollkommene Darstellung meiner selbst und meines Denkens wäre
Eine, die es mir erlauben würde, mit sicherem Strich zu schreiben
Wo doch wie jeder sichere Strich
Mein Denken mit Zögern behaftet ist

Das kann missfallen
Unangenehm auffallen
Denn es ist nicht sehr anatomisch
Einen Mund
Mit zwei Zungen
Zu haben
Man muss sich immer entscheiden
Und so taucht manchmal
Ein Skalpell vor meiner Nase auf, damit ich sofort die richtige Zunge wähle
Ich räuspere mich
Wie soll ich ihm erklären, dass sein Wille nichts an meiner Beschaffenheit ändern kann?

Ich habe zwei lebendige Bäume in meinem Mund
Lebendig heißt, in Echtzeit wachsend
Je nachdem, wann man hinschaut, kann es passieren, dass man nicht dasselbe sieht
Und gleichzeitig wird es jedes Mal genau das sein
Zwei Bäume, die wachsen und gedeihen
Der ganze Raum gehört ihnen
Ich habe Geradlinigkeit und Geschmeidigkeit
Ich habe Poesie
Ich habe einen Zweikopfkörper
Einen Zweizungenmund
Genau so nehme ich meine Arbeit wahr

Mit meinem Zweizungenmund
Kann ich mich selbst übersetzen
Kann ich mehr als bloß übersetzen und bin stolz darauf: Ich übersetze hin und zurück.
Ja, weil sich meine zwei Zungen nicht zwangsläufig immer einig sind

Was hat Priorität?
Sensibilität …
Das schöne Wort, das entsteht?
Dass das Versmaß aufgeht …
Man den Reimtest besteht?
M und N, früh und spät …
B, P, T, dünn gesät …
Dass sich alles um mein Denken dreht?
Wenn man im Streit um die Lösung fleht
– Du siehst doch, dass uns der Gedanke entgeht!
– Das Wort hier, ist das nicht zu abgedreht?…

Man ist sich
Nicht immer
Einig
Und da frage ich mich, wie macht ihr Übersetzer das bloß?

Gut, es gibt auch noch eine dritte Zunge
Die mir gehört
Die meines Vaters
Die mir fliegenartig um die Ohren schwirrt
Diese da
Ist eine Zunge
Diese Zunge da kommt nicht aus meinem Mund
Sie lebt in meinen Ohren
Eine Kultur außerhalb meines Körpers, die aber auch zu mir gehört

Und das Hauptproblem mit ihr sind die Missverständnisse
Denn
Was aus meiner Zunge kommt, beherrsche ich
Aber was meine Ohren empfangen, ist etwas anderes
Ich habe oft Missverständnisprobleme

Denn oft habe ich genau gehört, was ich gehört habe
Ganz genau
In meiner Zunge wird genau das gesagt, was gesagt wird
Ja, stimmt, genau das
Doch
Ist es nicht vielleicht so …
Dass es in der Kultur der Zunge außerhalb von mir nicht das Gleiche bedeutet, sogar was ganz anderes

Das führt zu Übersetzungsfehlern
Und das ist schlimm
Es gibt sogar Dinge, die in der Zunge meines Vaters nicht gesagt werden
Entweder weil der Begriff nicht existiert
Oder weil es sich nicht gehört, ihn zu denken
Und noch weniger, ihn zu sagen
Und vor allem nicht, ihn aufzuschreiben
Als ob die Leute, die die Zunge ursprünglich besitzen, ihn hätten aussprechen können, obwohl es nicht einmal in ihrer Kultur liegt, ihn zu denken. Ist das klar?

Also gilt es, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem Verbotenen, das bei den Menschen, deren Zunge es ist, zu Unzufriedenheit führt, und mir, die ich trotzdem reden und sagen will, was ich will
Daraus entsteht eine andere Diskussion
– Du musst genau verstehen, was du sagst und was du sagen wirst, denn alles kann dir im Hals stecken bleiben, weißt du
– Schluck

Ich verstehe das alles gut
Am Fuß meiner Bäume stehend
Dort kann ich am besten atmen
Ich habe alle meine Düfte
All das gehört zu mir
Es ist der Duft meines Waldes
Mehrere Welten in einer
Wo alles zählt, sogar die vertrockneten Winkel
Das alles gehört mir
Ich finde es schön
Es erfreut meine Ohren, alles, was aus vollem Hals aus meinem Mund kommen kann

Gut, es gibt Zungen, die ich gerne mag
Ich möchte sie benutzen, auch wenn sie mir weder von innen noch von außen gehören
Es ist eine große Anstrengung, die ich zu unternehmen bereit bin, um sie im Wald meines Mundes zu haben
Aber das ist eine andere Geschichte

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

 

Françoise Dôs Text PROTOCOLE(s) auf Französisch:

 

 

Françoise Dôs Text PROTOCOLE(s) auf Kreol:

 

 

Die Autorin Françoise Dô (Foto: George-Emmanuel Arnaud)

Françoise Dô ist Schauspielerin, Autorin und Regisseurin. Auf Martinique geboren, absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Cours Florent in Paris. 2016 gründete sie ihre eigene Company Bleus et Ardoise. In ihren vielfach ausgezeichneten Texten behandelt sie den Einfluss von Rassismus und Kolonialgeschichte auf Alltagsbeziehungen und das Verhältnis zwischen den Generationen. Als Assistentin hat sie mit Regisseuren wie Hassane Kassi Kouyaté und Stéphanie Loïk gearbeitet. Derzeit ist sie eine von neun «Artistes de la Fabrique», die gemeinsam das Programm der Comédie de Saint Etienne gestalten. 2022 erschien ihr Text «Juillet 1961″ in der Übersetzung von Yvonne Griesel im 23. Band der Anthologie SCÈNE.

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