africologne(2): Die Autorin und Regisseurin Eva Doumbia über Übersetzungsprozesse und die Notwendigkeit einer tatsächlichen Dekolonialisierung im Kulturbereich VARIATIONEN/ÜBERSETZUNGEN (Vorbedingung: Mein ICH ist das des Zweifels)

In Kooperation mit dem africologneFESTIVAL präsentieren wir vier Essays afrikanischer und afro-diasporischer Künstler*innen, die über das widerständige Potenzial ihrer Theaterarbeit reflektieren und gleichzeitig kritisch auf postkoloniale Machtverhältnisse blicken. In ihrem Text reflektiert die Regisseurin und Autorin mit franko-ivorischen Wurzeln Eva Doumbia  über ihre identité métisse und wie diese ihre Theaterpraxis beeinflusst hat, sowie über die Weitergabe von Erfahrungen als Beitrag zur Dekolonialisierung.

Die Regisseurin und Autorin Eva Doumbia (Foto: Jean Claude Monet)

Von Eva Doumbia

 

1) PRÄ-/DISPOSITION

Es war in der Küche unseres Einfamilienhauses. Oder vielleicht im Wohnzimmer, ich weiß nicht mehr genau, sagen wir also im Wohnzimmer. Er saß auf dem Sofa. (Jenem berühmten Sofa des Patriarchats, das das Rückgrat des Bühnenbilds meiner Produktion «Le Iench» bildet.)
Ich bin vielleicht 11 oder 12 Jahre alt und ich bin verblüfft.
Oder eher entgeistert. Ja, das ist es, entgeistert.
Mein Vater wiederholt den Satz und ich verstehe ihn immer noch nicht. Ich verstehe dieses Wort nicht. Ich glaube, ich schaue meine Mutter an. Oder meine jüngere Schwester, die es auch nicht versteht.
Ich glaube, ich hatte ein bisschen Angst. Eine ständige Angst vor dieser Autoritätsperson. Es ist seltsam, auch heute ist mir noch unklar, woher diese Ängste kamen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich damals die Mechanismen von Patriarchat und Exil noch nicht analysiert hatte. Ich war allem ausgesetzt: dem Autoritarismus zu Hause und dem Rassismus draußen. Einem «herzlichen», unbewussten Rassismus: Man mag mich, ich bin gut im Lernen und kreativ. (Das ist ein anderes Thema.)
An diesem Tag, also in diesem Wohnzimmer (oder dieser Küche) vor dem patriarchalischen Sofa, empfinde ich ein Gefühl der Angst, in das sich Fragen mischen.
Der Tonfall ist autoritär: «Gib mir ein Veure«.
Was ist ein «Veure«? Ein Glas? Butter?
Ich versuche es UND gehe ein Glas holen. Erleichtert stelle ich fest, dass es der richtige Gegenstand ist.

Heute lachen ich und meine Schwestern über diese Anekdote. Der Akzent des Patriarchen. Dabei hatte mein verstorbener Bruder mit dem Spiel angefangen. Er war fünf Jahre jünger als ich und hatte einmal zu meiner jüngeren Schwester gesagt: «Findest du nicht, dass Papa komisch redet?» Als Erwachsene hat sie diesen Satz für mich wiederholt. Bereits in frühester Jugend war sich mein Bruder der «Seltsamkeit» seines Vaters bewusst geworden. Ich dagegen badete darin, und hatte, wie der schreckhafte Fisch, der ich war, keine Distanz.
Aber was genau bedeutete eigentlich diese «Seltsamkeit»?

Szene aus Eva Doumbias Inszenierung ihres Textes «Le Iench» (Foto: Arnaud Bertereau)

In seinen letzten Lebensjahren verbrachte mein Vater die Wintermonate in seinem Heimatland, der Elfenbeinküste. Einmal, als wir ihn besuchten, ließ ich ihn mit meinem Sohn im Hof der Familie alleine. Als ich wiederkam, sagte mein Sohn: «Ich verstehe kein Wort von dem, was Papy mir erzählt, er spricht nur auf Bambara mit mir». In der Tat drehte er damals alles um: Er sprach mit den Malinke-Sprecher*innen auf Französisch und mit uns, seinen französischen Kindern, auf Malinke. Diese Sprachverwirrung wurde mit der Zeit immer größer. In den letzten Tagen seines Lebens in der Normandie sprach er überhaupt kein Französisch mehr. Er starb in seiner Wahlheimat, in seiner Muttersprache.
Schon früh in ihrer Laufbahn als Lehrerin spezialisierte sich meine Mutter auf die Leseerziehung von sogenannten «schwer erziehbaren» Kindern. Sie ist in der Lage, denjenigen zuzuhören, die am meisten Schwierigkeiten mit der Sprache haben, und versteht auch das Lallen von Babys. Hing es mit dieser Veranlagung zusammen, dass sie letztendlich den Großteil ihres Lebens mit einem Mann verbrachte, dessen Muttersprache sie nicht verstand?
Und ich? Und wir? Wie war das für uns Kinder?
Am Anfang war da der Humor. Ich höre immer noch das Lachen meines Bruders bei jeder «Seltsamkeit».
Wir Geschwister entwickelten unsere Ironie aus diesem seltsamen, «afrikanischen» Akzent.
Denn es gab nicht nur das berühmte «veure». Es gab: «Fouchu le camp» für foutez le camp  («Haut ab»). Viele Wörter, die andere ersetzten, wie «Zimmer» für «Haus» und umgekehrt. Auch die Farben, «blau» für «grün«, «gelb» für «rot«. Später verstand ich, dass er wörtlich übersetzte.
Wir wussten nicht, dass der Tchip¹ ein Sprachelement ist.
Als Teenager übersetzten wir, was unser Vater zu unseren weißen Freund*innen sagte.
Niemand bat uns darum, es genügte ein verlegener (und panischer) Blick.
Ich spreche die Muttersprache meines Vaters nicht, der uns nur die grundlegendsten Sätze beigebracht hat: «na ya» («komm her») oder «na domini ké» («komm essen»).
Ich kenne auch die Schimpfwörter, die ihm entschlüpften (ich werde sie nicht übersetzen): «I gnamokodè» oder «I kaya».
Ich spreche weder Bambara noch Malinke noch Dioula.
Eines Tages fragte ich: «Was ist der Unterschied zwischen Dioula, Malinke und Bambara?». Man antwortete mir: «Es ist das Gleiche, aber es gibt Unterschiede».
Ich erkenne diese Sprachen, aber ich spreche sie nicht.
Ich schaffe es nicht, sie zu lernen.
Ebenso verstehe ich Deutsch und Englisch, habe aber eine echte Blockade, wenn es darum geht, einen Satz zu bilden.
Ich höre die Musik, aber ich komponiere nicht.
Und ich bin zu der Person geworden, an die sich ältere Menschen, die aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara stammen, wenden, wenn sie nicht verstehen, was ein Beamter oder eine Beamtin gerade zu ihnen gesagt hat. Instinktiv wissen sie, dass ich es ihnen geduldiger erklären werde.
Warum erzähle ich etwas, das letztlich nur mich und meine Freunde und Verwandten angeht?
Weil wahrscheinlich meine künstlerische Praxis auf das zurückzuführen ist, was hier geschrieben steht, und auch auf das, was ich nicht aufgeschrieben habe, was aber zwischen den Worten durchscheint.
Meine Zugehörigkeit zu zwei Kulturen, mein «être-métis» macht mich zu einer geborenen Übersetzerin. Ich werde von Worten und Ideen durchdrungen.
(Ich denke hier an meine Freundin Sika Fakambi, Französin mit Wurzeln im Bénin, und große Übersetzerin insbesondere von Zora Neale Hurston, die stolz zu der dimension métisse ihrer Arbeitsweise steht).

Szene aus Eva Doumbias Produktion «Autophagies» (Foto: Pierre Ollingue)

2) DIS/POSITION

Selbstverständlich ist Inszenierung eine Art von Übersetzung

Die Übersetzung von Text in eine Aufführung, könnte man zunächst sagen. Inszenieren bedeutet, die Räume, Stimmen und Körper zu kennen, die die eindimensionale Fläche eines Buches nicht enthält. Es bedeutet, den Weg vom Geschriebenen zum Gesprochenen, zum Sinnlichen, zu Fleisch, Atem und Knochen zu finden. Die Ideen aus dem Buch in das Gehirn derjenigen zu bringen, die an der Bühnenzeremonie teilnehmen. Nach meinen ersten Engagements als Schauspielerin bin ich sehr schnell Regisseurin geworden. Dafür gibt es mehrere Gründe, von denen der wichtigste der geringe Platz war, der BIPoC-Schauspieler*innen damals, als ich anfing, in Frankreich eingeräumt wurde (Ich sollte schreiben: der fehlende Platz).
(Zu Anfang nahm ich es hin, dann war ich fassungslos und schließlich empfand ich Wut. Dazu kommen wir noch.)
Doch stecken hinter dieser Entscheidung zweifellos auch die Gründe, die dazu führten, dass ich meinen Vater übersetzte, ohne seine Sprache zu sprechen. Die Tatsache, dass ich mich bereitwillig von einem Idiom durchdringen lasse, das ich nicht vollständig beherrsche, ist, als würde ich mein Wesen anbieten, damit es zu einem anderen wird: eine Gewalt, die man sich selbst zufügt.
Außerdem erfordert das Inszenieren (so wie ich es verstehe) eine Form von Trance.
In dem Wort Trance steckt die Idee des Übergangs, einer Bewegung, die das englische Verb to translate genauer beschreibt.
Wenn ich Schauspieler*innen führe (auch in diesem Ausdruck ist Bewegung enthalten), übertrage ich das, was vom Text der Autorin*des Autors bei mir ankommt. Oder, wenn es nichts Geschriebenes gibt, eine Aussage.
(Vor einigen Jahren, als ich als junge Schauspielerin mit Freunden in einer Truppe spielte, rechtfertigte eine Regisseurin, deren Arbeitsweise wir anzweifelten, sich mit folgenden Worten: «Ich inszeniere eine Idee»).
Die Kunst der Regie geht mit einem gewissen Anteil an Schamanismus einher. Es genügt, sich zu dezentrieren, um das festzustellen. Dramatische Künste gibt es in ebenso vielen Formen wie es menschliche Kulturen gibt: das westliche Theater natürlich, aber auch das Kotéba der Malinke, das Pow-Wow der amerikanischen Ureinwohner*innen, das Mvet aus Kamerun, das japanische Nô … Diese Kunst des Übergangs ist die Essenz dessen, was wir als Inszenierung bezeichnen. Theater bedeutet Teilen, das Verschmelzen von Gedanken und Vorstellungswelten, die Bildung einer Gemeinschaft. Zu Beginn erfand ich Versuchsanordnungen, deren Hauptzweck es war, das Publikum durch die Art und Weise, wie es saß, in die Fiktion eintauchen zu lassen (oder vielmehr glaubte ich, etwas zu erfinden, denn in Wirklichkeit war da vermutlich ein Prozess der Inspiration, ein schöpferischer Atem am Werk.) Die Vermischung von Kunst (Tanz, Musik, bildende Kunst) und nicht-künstlerischen
Disziplinen (Sozialwissenschaften, Frisieren, Kochen) entsprang meiner identité métisse.

Szene aus Eva Doumbias Produktion «Autophagies» (Foto: Pierre Ollingue)

Ein paar Bemerkungen zu dem Ausdruck métis (der man früher mit dem rassistischen Begriff «Mischling» ins Deutsche übersetzt hätte): Um es genau zu sagen: Nicht ICH bin métisse, sondern meine Identität ist es. Wie seine Nebenerscheinungen («mulâtre», das vom Wort «mulet», einer Mischung aus Esel und Pferd, abgeleitet ist, «quarteron», ein Viertel nicht-weißen Blutes, «octavon», ein Achtel usw.) entstammt das Wort dem Vokabular der Sklavenhalter. Ich selbst bin, neben anderen Personen und Dingen: Afro-Päerin, Afro-Europäerin oder Euro-Afrikanerin. Meine identité métisse liegt in dem Bindestrich (zwischen den beiden Kontinenten). Bindestrich bedeutet Übersetzung.

Die männliche Vorsilbe UN (frz. «eins, einer»)  in dem Wort «universell» passt mir nicht, außerdem ist mir EINS zu wenig. Adam und Eva als Eltern und Lucy, unsere afrikanische Mutter, als einzige Quelle der Menschheit, sind Fiktionen oder Theorien, an die der Bindestrich, der ich bin, nicht glauben kann. Ich bin weder Historikerin noch Archäologin, Genetikerin oder sonst etwas Wissenschaftliches. Doch indem ich mich kon-zentriere (mich mit-zentriere), stelle ich mir mehrere menschliche Geburten, Transformationen an verschiedenen Orten und vermutlich zu verschiedenen Zeiten vor. Mir gefällt die Vorstellung der Vielzahl, von chaotischen Mischungen, die zu einer Ordnung werden. Vielfalt, Diversität. Die Pluriversalität, die erstmals 1909 von dem amerikanischen Philosophen William James beschrieben wurde. Realität ist nie global, und es gibt stets etwas, das wir nicht kennen («noch nicht betrachtet haben»). Diese Theorie der Pluriversalität findet sich bei dekolonialen Intellektuellen in Lateinamerika (Ramon Grosfoguel), die oft von indigenem oder afrikanischem Gedankengut inspiriert sind. Pluriversalität bedeutet nicht die Trennung von Universen. Es ist die Möglichkeit ihrer Koexistenz.

Die Übersetzung ist es, die es durch Grenzen getrennten Völkern ermöglicht, miteinander zu sprechen. Es gibt unterschiedliche Arten der Übersetzung, unterschiedliche Arten der Inspiration. Pluriversalität impliziert Dezentrierung, Entgrenzung, Dekolonialität.
So wie das Chaos die Ordnung gebiert, so bringt der Zorn der Kunstaktivist*innen Gleichheit hervor.

Szene aus Eva Doumbias Produktion «Autophagies» (Foto: Pierre Ollingue)

3) POSITION

Wut/Übersetzung. Nun kommen wir zur Wut als schöpferischer Kraft

Wut ist ein guter Ratgeber. Wut weist mich auf Ungerechtigkeit hin. Wut lässt mich aufrecht stehen. Meine Wut kommt von dem, was ich nicht übersehen kann.
Was da ist, vor mir. Es gibt schöpferische Wut, engagierte Wut und umgekehrt.
Die darstellenden Künste hierzulande sind einer kolonialen Logik unterworfen: kaum vorhandene Repräsentation von Minderheiten, eurozentrische Erzählungen, Mangel an Diversität im Publikum.
2015 gründeten wir ein Kollektiv namens «Décoloniser les arts». Wir, das sind Gerty Dambury, Marine Bachelot Nguyen, David Bobée, Sarah Sainte Rose Franchine, Karima El Kharraze, Françoise Vergès, Jalil Leclaire, Malou Vigier, Leila Cuickerman, Fabienne Pourtein, Françoise Sémiramoth … und andere. «Décoloniser les arts«: «Die Künste dekolonisieren»: Der Titel spricht für sich, wie man so schön sagt.
Wir haben mit großem Einsatz gearbeitet: wissenschaftliche, persönliche oder engagierte Veröffentlichungen, Diskussionsrunden, Symposien, Treffen mit Entscheidungsträger*innen, dem Ministerium und verschiedenen Partnern. Pädagogik, Demonstrationen, manchmal auch ein Kräftemessen. Eine Charta, ein Lexikon. Eine dekolonisierte Universität an einem Ort, der von dem Künstler Kader Attia geleitet wurde: La Colonie.
Wir haben die Szene der Bühnenkunst in Fragen der Repräsentation vorangebracht: mehr Darsteller*innen jeglicher Herkunft auf den Theaterbühnen. Schwarze, nordafrikanische, asiatische Künstler*innen aus allen Minderheiten haben Zugang zu den großen Bühnen, den großen Festivals. Zum Festival d’Avignon, dem Festival d’Automne und den staatlich subventionierten Theatern.
Doch warum trage ich immer noch diese Wut in mir? Diese Unzufriedenheit? Diese Frustration? Manchmal Bitterkeit und Verbitterung.
Ein Schritt nach vorne und einer zurück.
Wie meine Mitstreiter*innen in der Dekolonie habe ich das Gefühl, noch immer betrogen zu werden. Das Misstrauen bleibt bestehen, das Gefühl, dass man mir zuhört, um mich für seine Zwecke einzuspannen, dass mein Denken seines Wesens und seiner Wut beraubt wird, dass man es kosmetisch aufbereitet. Wie viele institutionelle Veranstaltungen werden heute als «dekolonial» bezeichnet. Ich werde nicht die Namen der Programmgestalter*innen nennen, die bei unseren Forderungen mit den Schultern zuckten. Die mit «hm-das-finde-ich-nicht», «blablablabla-das-ist-nicht-universell» und ähnlichen Phrasen reagierten.
Und die heute unseren Wortschatz recyclen: «rassifiziert», «Intersektionalität», «Geschlechtsidentität».
In mir schreit die Wut das Wort «Opportunismus», das die Voraussetzung für die Worte «weiterhin anhaltende Herrschaft» darstellt.

Szene aus Eva Doumbias Inszenierung ihres Textes «Le Iench» (Foto: Arnaud Bertereau)

Lediglich die Form der Unterdrückung hat sich geändert. Trotz unserer Diskussionen, Arbeitsgruppen und Debatten, unserer Publikationen, bleibt ihr Kern bestehen. Ihr kolonialer Hintergrund.
Als wäre da  etwas, das sich nicht ändern kann.
Das sie nicht loslassen wollen.
Nicht auf-geben.
Auch wenn sie und wir wissen, dass Veränderungen notwendig sind. Dass wir alle davon profitieren können.
Doch das Böse bleibt bestehen.
Ja, ich schreibe das ganz bewusst so.
Es geht um das Böse.
Die Quelle des Bösen.
Die tiefgreifende Ungerechtigkeit.
Die Ungleichheit.
Getarnt durch die Ausnahme: Sie bestimmen ihre*n Auserwählte*n.
Ein*e BIPoC-Künstler*in, der*die von der herrschenden Ordnung wie eine Trophäe hochgehalten wird. Ich will nicht, dass mein Kopf verkleinert wird. Ich weigere mich, die Trophäe zu sein, die man ausstellt, um meine Worte zu töten.
Die Wahrheit ist, dass wir auf einem Minenfeld arbeiten. Einem weißen Minenfeld. Jeder Schritt ist ein Slalom, um einer Mine auszuweichen. Man hätte eine Maske tragen sollen, man muss es manchmal, man muss es oft. Allzu oft muss man die Wut verbergen. Sie verschweigen. Aufpassen, was man schreibt, was man sagt. Wie man formuliert. Sich weichspülen, nicht der*die sein, für den*die man sich hält. Nein, ich schreie nie. Ich möchte nicht, dass sich der*die andere durch meine Wahrheit angegriffen fühlt.
Was ich sage, ist (würde als) Aggression (empfunden werden).
Also gibt es Strategien.
(Wie das, was ich hier tue. Und es ist schwindelerregend, es aufzuschreiben.)
Diese Strategien sind Formen von Übersetzung.
Ich verhandle.
Verhandeln als Übersetzung.
Ich übersetze die Wut, die ich über die Ungerechtigkeit empfinde, in:
Humor
Poesie
Schönheit
Immer wieder in Lachen
Emotion
Musik
Tanz
Gedanken
Wunderbaren, herrlichen Zorn
Kunst natürlich
Ebenso selbstverständlich in lebendige Kunst
In Atem
Die Spiritualität der lebendigen Kunst
Was ich nicht sage
Ich schreibe, ohne meine Sätze zu beenden.
Was ich weder schreibe noch sage, ist das, was man lesen und hören muss.
Die Übersetzung ist mein Bindestrich.
Das Schweigen.
Hören Sie meinem Schweigen zu und lernen Sie, meine Auslassungszeichen zu lesen.

 

Szene aus Eva Doumbias Produktion «Autophagies» (Foto: Pierre Ollingue)

4) AUSSAGE

Wut ist Frühling. Ist Weitergabe nicht wunderbar?

Jazz ist der lebende Beweis, dass nichts wirklich stirbt. Als wäre es nötig, diese Wahrheit zu demonstrieren: Was man verschwinden lässt, verwandelt sich, Afrika ist überall in unserer Musik. Wer tanzt heute noch Bourrée? Wir lachen darüber mit all unseren weißen Zähnen. Wir sind hier und werden hier sein, wo die Künste gelehrt werden. Wir teilen unsere Erfahrungen an den Kunstschulen und werden sie auch in Zukunft teilen. Denn für mich ist es unvorstellbar, dass die nachfolgenden Generationen gezwungen sein könnten, denselben Kreuzweg zu beschreiten, den unsere eigenen Füße gezeichnet haben. Weil uns niemand beigebracht hat, dass es vor uns andere Schwarze Theater und andere BIPOC-Bühnenpoet*innen gegeben hat.
(Gestern finde ich in der Bibliothek einer großen Schriftstellerin den von ihr verfassten Theatertext «Dieu nous l’a donné» («Gott hat es uns gegeben»). Ich schlage ihn auf und lese eine Geschichte über die Rückkehr in die Heimat und den Kampf um Würde. Sie ist so schön geschrieben, dass ich eintauche und mich vergesse. Ich wage es nicht, die Autorin zu fragen, ob ich den Text mitnehmen darf. Also versuche ich am Abend zu Hause, ihn aufzutreiben. Das Internet sagt mir auf allen Websites, dass das Buch vergriffen ist.)
(Die Autorin ist Maryse Condé, der vergriffene Text ist bei Présence Africaine erschienen.)
Aus dem Dschungelgarten, in dem ich schreibe, lausche ich dem Atem des Windes, durch die riesigen Rasenflächen hindurch führen mich die Ameisen zu meinen Gedanken.
Es ist notwendig, das weiterzugeben und in Ehren zu halten, was unsere Vorfahren aufgebaut haben.
Es ist notwendig, in Ehren zu halten, was wir selbst aufbauen.
Neben der Übersetzung verbirgt sich die Wahrheit auch in der Weitergabe.
Vielleicht ist dies die einzige Notwendigkeit.
Nein, nicht vielleicht.
Unbestreitbar.

 

¹ Schnalzendes Geräusch mit Mund und Zunge, mit dem in einigen afrikanischen Ländern und in der Karibik Missfallen, Verachtung oder- im Gegenteil  – Anerkennung geäußert wird.

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

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Die Regisseurin und Autorin Eva Doumbia (Foto: Jean Claude Monet)

Eva Doumbia, Regisseurin, Autorin und Schauspielerin, wurde in einem Vorort von Le Havre (Normandie) geboren und wuchs dort in einem Umfeld aus gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen, Lehrer*innen, Migrant*innen und afrikanischen Student*innen auf. Nach ihrem Literatur- und Theaterstudium an der Université de Provence absolvierte sie eine Ausbildung am Conservatoire National Supérieur d’Art Dramatique (Unité Nomade de Formation à la mise en scène) bei Jacques Lassalle, Krystian Lupa, André Engel, Dominique Müller, Pierre Mélé, André Serré und Marion Hewlett. 1999 gründete sie ihre Kompanie La Part du Pauvre/Nana Triban zwischen Marseille und Abidjan. Seit 2019 bespielt ihre Kompanie das Théâtre des Bains Douches in der multikulturellen Arbeiter*innengemeinde Elbeuf. 2022 ist Eva Doumbia artiste associée am Théâtre du Nord in Lille (Leitung David Bobée), u.a. an der Seite von Virginie Despentes und Armel Roussel. Ihr künstlerischer Ansatz hinterfragt auf poetische Weise multiple Identitäten und versucht, Brücken zwischen Europa, wo sie geboren wurde und lebt, Afrika, woher ihr Vater stammt (Abidjan, Bamako, Ouagadougou, Niamey, Brazzaville, Libreville) und Amerika (Haiti, die USA, Brasilien …) zu bauen. Als Regisseurin inszeniert sie ihre eigenen Texte oder Dramatiker*innen wie Edward Bond, Alfred de Musset, Peter Turrini, Lars Noren oder Bertolt Brecht. Als eine der ersten Regisseur*innen in Frankreich entdeckte sie Texte von Kouam Tawa, Dieudonné Niangouna, Aristide Tarnagda oder Léonora Miano für die Bühne.

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Der vorliegende Text entstand im Rahmen des Diskursprogramms «Gewalt und Widerstand» des africologneFESTIVAL 2023. Gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Kunststiftung NRW.

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