Zur sprachlichen Schwierigkeit kommt noch eine zweite, kulturelle hinzu. Manche Übersetzer*innen und/oder Herausgeber*innen entscheiden sich in dem Bemühen, den Sitten ihres Landes zu entsprechen, bewusst dafür, bestimmte Begriffe oder Ausdrücke zu ersetzen oder sogar Textstellen zu entfernen, die sie als unvereinbar mit der lokalen Kultur und Moral erachten. Dabei handelt es sich nicht nur um die «Domestizierung» oder «Assimilierung» der Sprache des Autors bzw. der übersetzten Autorin, sondern schlicht und einfach um deren Zensur. Vor allem, wenn die Übersetzung von einer offiziellen arabischen Behörde in Auftrag gegeben und bezahlt wurde. Dies bringt uns zurück zu der immer wiederkehrenden wichtigen Frage, ob Übersetzung ein Werkzeug und eine Äußerung von Macht und Herrschaft ist. Leider praktizieren mehrere arabische Übersetzungen das, was ich als «Übersetzungsmorde» oder Massaker an Texten bezeichne, die in der Regel das berühren, was man im Arabischen gemeinhin als das «verbotene Trio» aus Religion, Sex und Politik bezeichnet.
Im Februar 2023 prangerte Samir Grees, ein Berliner Übersetzer ägyptischer Herkunft, der für seine bemerkenswerten Übersetzungen zahlreicher Werke aus dem Deutschen ins Arabische bekannt ist, in einem mutigen Post auf seiner Facebook-Seite, über den mehrere arabische Presseartikel[2] berichteten, an, was er als «ein 640 Wörter auslöschendes Gemetzel» an seiner Übersetzung von Judith Schalanskys Roman Verzeichnis einiger Verluste (Suhrkamp, 2018) bezeichnete. Hinter dieser Zensur, die ohne vorherige Absprache weder mit der Autorin noch mit dem Übersetzer sämtliche Passagen aus dem Buch gestrichen hatte, in denen Sex und Geschlechtsorgane vorkamen, stand der Auftraggeber und Herausgeber der Übersetzung, ein emiratisches Übersetzungsprojekt namens «Kalima», mit Sitz in Abu Dhabi. Samir Grees ist nicht der Einzige, der unter derartigen Unflätigkeiten zu leiden hat. Sein öffentlicher Aufschrei hat zahlreiche andere Arabisch-Übersetzer*innen, die ebenfalls der barbarischen Schere der Zensur zum Opfer gefallen waren, dazu angeregt, an die Öffentlichkeit zu gehen.
Ohne seinen Sinn für Humor zu verlieren, nannte Samir Grees die zensierte Version eine «sexfreie Übersetzung», in Anlehnung an «eine nahezu alkoholfreie Übersetzung», den sarkastischen Titel eines Beitrags, der am 12. August 2022 auf der Plattform Raseef[3] veröffentlicht wurde. Autor war ein anderer Berliner Übersetzer ägyptischer Herkunft, Ahmad Farouk, der ebenfalls mutig die Zensur seiner arabischen Übersetzung des Romans Später Ruhm von Arthur Schnitzler anprangerte, die 2021 vom selben emiratischen Verlag «Kalima» veröffentlicht wurde und in der die Wörter Bier, Wein und Cognac durch das unbestimmte Wort «Getränk» ersetzt worden waren.
Über ihre anekdotische Dimension hinausgehend, kann uns diese Geschichte dabei helfen, zu verstehen, warum zwei unterschiedliche arabische Übersetzungen von Verre Cassé existieren. In der ersten Übersetzung mit dem Titel «زجاج مكسور», die 2014 von der offiziellen Literaturbehörde des ägyptischen Kultusministeriums veröffentlicht wurde, hat der ägyptische Übersetzer Dr. Adel Asaad Al-Miri sich für eine Interpretation des Wortes «Glas» nicht als Gefäß (كأس ), sondern als Material (زجاج) entschieden, da man im Arabischen zwischen den beiden Wörtern unterscheidet – im Gegensatz zum Französischen, Englischen und Deutschen, wo die Wörter verre, glass und Glas sowohl das Material als auch das Gefäß bezeichnen. Während sich in einer zweiten Übersetzung mit dem Titel «قدح مكسور», die 2019 von der offiziellen syrischen Literaturbehördeveröffentlicht wurde, die syrische Übersetzerin Dr. Zubaydah al-Qadi dafür entschied, die Bedeutung Gefäß beizubehalten, indem sie das Wort Glas mit dem Wort «قدح» übersetzte, was «Weinkelch» bedeutet und dem Sprachregister des klassischen Arabisch entstammt, und es damit dem gängigen Wort «كأس», dem Äquivalent für Glas im literarischen Arabisch und in den modernen Mundarten, vorzog.
Dies lässt sich dadurch erklären, dass das Wort «قدح» oder «Weinkelch» in der kollektiven arabischen Vorstellungskraft auf die Zeit Abû-Nuwâs› und seine abendlichen Feste voller Ausschweifungen, Zügellosigkeit und Gelächter verweist, die meist in sarkastischem Tonfall erwähnt werden. Trotz der zeitlichen Kluft zwischen dem französischen und dem arabischen Vokabular ist jedoch davon auszugehen, dass diese Übersetzung dem Geist des Originals stärker gerecht wird. Daher kommen wir zu dem Schluss, dass jede Übersetzung in erster Linie eine (Frage der) Interpretation des Originals ist. In seinem Buch Traducteur, auteur de l’ombre(Arléa-Poche, 2014) unterscheidet Carlos Batista drei Kategorien von Übersetzer*innen: «den Schwamm, den Filter und das Sieb. Der Schwamm saugt alles auf und glaubt, alles wiederzugeben. Der Filter vernachlässigt die Flüssigkeit und behält nur den Bodensatz. Das Sieb verwirft das Stroh, um nur die Körner zu behalten«. Und er schließt mit dem Satz: «Sei ein Sieb«.
Vom Eigennamen zur Eigenheit des Übersetzens eröffnet sich ein neues Spielfeld. Es gibt ein spezifisches Denken und einen Humor zwischen den Sprachen, die einzig die Übersetzung als ästhetische Praxis ermöglicht und hervorbringt. Alles spielt sich in dieser «Kluft» ab, die zum Schauplatz der dramatischen Herausforderungen und Spannungen wird.
Noch keine Kommentare / Diskutieren Sie mit!
Wir freuen uns auf Ihre Kommentare. Da wir die Diskussionen moderieren, kann es sein, dass Kommentare nicht sofort erscheinen. Mehr zu den Diskussionsregeln erfahren Sie hier.