Übersetzung als ästhetische Praxis Der Titel ist frei übersetzbar

Meriam Bousselmi (Foto: Salma Bousselmi)

 

von Meriam Bousselmi

Es ist allgemein anerkannt, dass alles in einem Text übersetzt werden kann, bis auf den Namen des Autors/der Autorin. Als Frank Weigand 2015 mein Stück Ce que le dictateur n’a pas dit aus dem Französischen ins Deutsche übertrug, brauchte er den Text nicht Maria (das Äquivalent von Meriam im Deutschen und von Marie im Französischen) von Frieden (die semantische Übersetzung meines Nachnamens Bousselmi aus dem Arabischen, der im Französischen mit de la Paix übersetzt werden könnte) zuzuschreiben. Obwohl der Name Maria von Frieden im Deutschen vielleicht «attraktiver» gewesen wäre als mein tunesischer Name Meriam Bousselmi. Aber das ist eine andere Geschichte.

Halten wir stattdessen fest, dass der Eigenname in der Regel ohne Übersetzungen auskommt. Unabhängig von seinem sprachlichen Pass ist er dazu bestimmt, Grenzen zu überschreiten, ohne ein semantisches Visum beantragen zu müssen. Woraus sich ableiten lässt, dass diese Ausnahme von der Übersetzung eine Art vollkommener Gleichheit aller sprachlichen Wesen in Bezug auf Grenzen ermöglicht. Man könnte das als Prinzip der Internationalität des Eigennamens bezeichnen. Es handelt sich um ein sprachliches Privileg, und gerne möchte ich glauben, dass es die Übersetzung eines Anrechts auf die «Einheit des Selbst» in allen Sprachen darstellt. Es wäre nämlich, wie ich fürchte, verwirrend oder gar entfremdend, wenn ich mich auf Deutsch Maria von Frieden, auf Französisch Marie de la Paix und auf Tunesisch Meriam Bousselmi nennen würde!

Zwar ändert sich also der Name des Autors bzw. der Autorin nicht, doch können sich Figurennamen durchaus verändern. In der Tat begnügt man sich überall auf der Welt damit, die Namen Hamlet, Medea, Don Quichotte, Scheherazade, Ali Baba, Djoh’a oder Fanta Maa in das Alphabet der Rezeptionssprache zu übertragen (obwohl einige Namen aufgrund der europäischen Kulturhegemonie zu Unrecht weniger bekannt und anerkannt sind als andere). Doch manchmal entscheiden sich Übersetzer*innen in Absprache mit den Autor*innen oder auf deren Wunsch für eine Übersetzung oder gar Neuschöpfung der im Text erwähnten Figuren- oder Ortsnamen, wenn diese symbolisch aufgeladen sind und Konnotationen enthalten, die für den Aufbau und die Interpretation der Erzählung unerlässlich sind[1].

 

Szene aus Meriam Bousselmis Stück «Der Titel ist frei übersetzbar» Foto: Reimar de la Chevallerie

Als Beispiel möchte ich Verre Cassé, den Namen der Haupt- und Titelfigur des 2005 von dem französisch-kongolesischen Schriftsteller Alain Mabanckou veröffentlichten Romans, anführen. Das Buch war äußerst erfolgreich und wurde mehrfach übersetzt und für die Bühne adaptiert. Bei jeder Übersetzung wurde versucht, eine Entsprechung für den Figurennamen Verre Cassé zu finden, der im Deutschen wörtlich übersetzt Zerbrochenes Glas bedeutet. Für diese Option haben sich übrigens auch die deutschen Übersetzer*innen Holger Fock und Sabine Müller (Liebeskind Verlag, München 2013) entschieden. Diese auf den ersten Blick naheliegende Entscheidung sollte jedoch hinterfragt werden, wenn man die polnische und die arabische Übersetzung von Zerbrochenes Glas betrachtet.

Kielonek bezeichnet in der polnischen Umgangssprache ein kleines Glas Wodka. Dieses Wort hat der polnische Schriftsteller und Übersetzer Jacek Giszczak für die Übersetzung von Verre Cassé (Karakter, Krakau 2008) gewählt. Seine Entscheidung bricht mit der wörtlichen Übersetzung und mit einem Teil des ursprünglichen Namens und Titels, da das Adjektiv «zerbrochen» im Polnischen nicht mehr wiedergegeben wird. Dabei hat dieses Adjektiv eine wichtige Konnotation, da es das Porträt des Erzählers und der Hauptfigur in einem Wort zusammenfasst: ein Alkoholiker, der Arbeitsplatz und Frau verloren hat und seine Zeit in einer übel beleumundeten kongolesischen Bar, dem Hauptschauplatz des Romans, verbringt.

Tatsächlich scheint mir, dass sich Alain Mabanckou in Verre Cassé aus Gründen sprachlicher Kreativität (und) wie häufig in der Populärkultur dafür entscheidet, seiner Figur einen trivialen, witzigen Spitznamen zu geben, der gleichzeitig den Humor, die Vulgarität und die sprachliche Gewalt offenbart, die Stammgästen schäbiger Bars vertraut sind. Der Spitzname Verre Cassé ist keineswegs eine unschuldige ästhetische Entscheidung, sondern an sich schon Übersetzung eines Sprachcodes, in dem nur in Andeutungen kommuniziert wird, wie es Trinker üblicherweise tun. Er stellt ein unmittelbares Eintauchen in das Vokabular von Kreisen dar, in denen regelmäßig Alkohol konsumiert wird. Und genau dieses Sprachregister muss in der Zielsprache gefunden werden. Das bedeutet also, dass die Übersetzung den Originalausdruck nicht lediglich nachahmt, sondern ihn auch in die Kultur der Zielsprache überträgt. Genau das scheint der polnische Übersetzer mit seiner Entscheidung für das Wort Kielonek zu tun. Denn das lexikalische Feld, das im Französischen in Bars verwendet wird, ist nicht unbedingt dasselbe wie im Polnischen, Deutschen oder Arabischen. Im Übrigen frage ich mich, welchen Spitznamen Verre Cassé wohl in einer alten Berliner «Eckkneipe» gehabt hätte.

Im Arabischen würde die Übersetzung von Verre Cassé zusätzliche Schwierigkeiten bereiten. Zunächst einmal, weil, wie einige wissen, das literarische Arabisch sich stark von den zahlreichen Dialekten des gesprochenen Arabisch unterscheidet. In einer Bar in Tunis, Algier, Beirut, Ajman, Amman oder in Khartoum wird nicht dasselbe Arabisch gesprochen. Und man verwendet auch nicht denselben Wortschatz und dasselbe Vokabular für Durst und Rausch. Die Pluralität der Dialekte führt zu einer Pluralität der Umgangssprachen. Es gäbe also ebenso viele mögliche Spitznamen als Äquivalent zu Zerbrochenes Glas wie arabische Mundarten, denen es nicht an Erfindungsreichtum mangelt.

Allerdings scheint es auf den ersten Blick nicht möglich, ein «passendes» und «glaubwürdiges» Äquivalent im literarischen Arabisch zu finden, da es sich nicht um eine Sprache handelt, die heutzutage in Bars gesprochen wird. In der weiter entfernten Vergangenheit war dies jedoch durchaus der Fall. Zahlreiche Perlen der klassischen arabischen Lyrik zelebrieren die Kultur des Bacchus, wie folgende berühmte Verse des Dichters Abu-Nuwâs (8. Jahrhundert): «Ich verließ die Mädchen für die Jungen, und für den alten Wein ließ ich das klare Wasser zurück. Fernab vom rechten Weg habe ich ohne Umstände den Weg der Sünde eingeschlagen, denn ihn ziehe ich vor» (deutsche Übersetzung nach der französischen Nachdichtung von Vincent-Mansour Monteil, in Le vin, le vent, la vie: choix de poèmes, Arles: Actes Sud-Sindbad, 1998).

Szene aus Meriam Bousselmis Stück «Der Titel ist frei übersetzbar» (Foto: Toni Säckl)

Zur sprachlichen Schwierigkeit kommt noch eine zweite, kulturelle hinzu. Manche Übersetzer*innen und/oder Herausgeber*innen entscheiden sich in dem Bemühen, den Sitten ihres Landes zu entsprechen, bewusst dafür, bestimmte Begriffe oder Ausdrücke zu ersetzen oder sogar Textstellen zu entfernen, die sie als unvereinbar mit der lokalen Kultur und Moral erachten. Dabei handelt es sich nicht nur um die «Domestizierung» oder «Assimilierung» der Sprache des Autors bzw. der übersetzten Autorin, sondern schlicht und einfach um deren Zensur. Vor allem, wenn die Übersetzung von einer offiziellen arabischen Behörde in Auftrag gegeben und bezahlt wurde. Dies bringt uns zurück zu der immer wiederkehrenden wichtigen Frage, ob Übersetzung ein Werkzeug und eine Äußerung von Macht und Herrschaft ist. Leider praktizieren mehrere arabische Übersetzungen das, was ich als «Übersetzungsmorde» oder Massaker an Texten bezeichne, die in der Regel das berühren, was man im Arabischen gemeinhin als das «verbotene Trio» aus Religion, Sex und Politik bezeichnet.

Im Februar 2023 prangerte Samir Grees, ein Berliner Übersetzer ägyptischer Herkunft, der für seine bemerkenswerten Übersetzungen zahlreicher Werke aus dem Deutschen ins Arabische bekannt ist, in einem mutigen Post auf seiner Facebook-Seite, über den mehrere arabische Presseartikel[2] berichteten, an, was er als «ein 640 Wörter auslöschendes Gemetzel» an seiner Übersetzung von Judith Schalanskys Roman Verzeichnis einiger Verluste (Suhrkamp, 2018) bezeichnete. Hinter dieser Zensur, die ohne vorherige Absprache weder mit der Autorin noch mit dem Übersetzer sämtliche Passagen aus dem Buch gestrichen hatte, in denen Sex und Geschlechtsorgane vorkamen, stand der Auftraggeber und Herausgeber der Übersetzung, ein emiratisches Übersetzungsprojekt namens «Kalima», mit Sitz in Abu Dhabi. Samir Grees ist nicht der Einzige, der unter derartigen Unflätigkeiten zu leiden hat. Sein öffentlicher Aufschrei hat zahlreiche andere Arabisch-Übersetzer*innen, die ebenfalls der barbarischen Schere der Zensur zum Opfer gefallen waren, dazu angeregt, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Ohne seinen Sinn für Humor zu verlieren, nannte Samir Grees die zensierte Version eine «sexfreie Übersetzung», in Anlehnung an «eine nahezu alkoholfreie Übersetzung», den sarkastischen Titel eines Beitrags, der am 12. August 2022 auf der Plattform Raseef[3] veröffentlicht wurde. Autor war ein anderer Berliner Übersetzer ägyptischer Herkunft, Ahmad Farouk, der ebenfalls mutig die Zensur seiner arabischen Übersetzung des Romans Später Ruhm von Arthur Schnitzler anprangerte, die 2021 vom selben emiratischen Verlag «Kalima» veröffentlicht wurde und in der die Wörter Bier, Wein und Cognac durch das unbestimmte Wort «Getränk» ersetzt worden waren.

Über ihre anekdotische Dimension hinausgehend, kann uns diese Geschichte dabei helfen, zu verstehen, warum zwei unterschiedliche arabische Übersetzungen von Verre Cassé existieren. In der ersten Übersetzung mit dem Titel «زجاج مكسور», die 2014 von der offiziellen Literaturbehörde des ägyptischen Kultusministeriums veröffentlicht wurde, hat der ägyptische Übersetzer Dr. Adel Asaad Al-Miri sich für eine Interpretation des Wortes «Glas» nicht als Gefäß (كأس ), sondern als Material (زجاج) entschieden, da man im Arabischen zwischen den beiden Wörtern unterscheidet – im Gegensatz zum Französischen, Englischen und Deutschen, wo die Wörter verre, glass und Glas sowohl das Material als auch das Gefäß bezeichnen. Während sich in einer zweiten Übersetzung mit dem Titel «قدح مكسور», die 2019 von der offiziellen syrischen Literaturbehördeveröffentlicht wurde, die syrische Übersetzerin Dr. Zubaydah al-Qadi dafür entschied, die Bedeutung  Gefäß beizubehalten, indem sie das Wort Glas mit dem Wort «قدح» übersetzte, was «Weinkelch» bedeutet und dem Sprachregister des klassischen Arabisch entstammt, und es damit dem gängigen Wort «كأس», dem Äquivalent für Glas im literarischen Arabisch und in den modernen Mundarten, vorzog.

Dies lässt sich dadurch erklären, dass das Wort «قدح» oder «Weinkelch» in der kollektiven arabischen Vorstellungskraft auf die Zeit Abû-Nuwâs› und seine abendlichen Feste voller Ausschweifungen, Zügellosigkeit und Gelächter verweist, die meist in sarkastischem Tonfall erwähnt werden. Trotz der zeitlichen Kluft zwischen dem französischen und dem arabischen Vokabular ist jedoch davon auszugehen, dass diese Übersetzung dem Geist des Originals stärker gerecht wird. Daher kommen wir zu dem Schluss, dass jede Übersetzung in erster Linie eine (Frage der) Interpretation des Originals ist. In seinem Buch Traducteur, auteur de l’ombre(Arléa-Poche, 2014) unterscheidet Carlos Batista drei Kategorien von Übersetzer*innen: «den Schwamm, den Filter und das Sieb. Der Schwamm saugt alles auf und glaubt, alles wiederzugeben. Der Filter vernachlässigt die Flüssigkeit und behält nur den Bodensatz. Das Sieb verwirft das Stroh, um nur die Körner zu behalten«. Und er schließt mit dem Satz: «Sei ein Sieb«.

Vom Eigennamen zur Eigenheit des Übersetzens eröffnet sich ein neues Spielfeld. Es gibt ein spezifisches Denken und einen Humor zwischen den Sprachen, die einzig die Übersetzung als ästhetische Praxis ermöglicht und hervorbringt. Alles spielt sich in dieser «Kluft» ab, die zum Schauplatz der dramatischen Herausforderungen und Spannungen wird.

 

Szene aus Meriam Bousselmis Stück «Der Titel ist frei übersetzbar» (Foto: Toni Säckl)

2020 lud mich das Göttinger Theaterkollektiv Boat People Project ein, ein Stück über das Übersetzen zu schreiben und zu inszenieren[4]. Als mehrsprachige Person kenne ich das spielerische Potenzial des Übersetzens, seine Nuancen, Wortspiele, Verschiebungen, Verständnisfehler und Andeutungen, sein Schweigen, seine Zensur, seine Zweifel und das Spiel mit Differenzen und Ähnlichkeiten, die ich in eine dramatische Ästhetik zu verwandeln versuchte. Es begann bereits mit dem Titel des Stücks. Im Altägyptischen bedeutet der Name Nofretete wörtlich übersetzt: «Die Schöne ist gekommen». In Anlehnung daran beschloss ich, mein Stück auf Französisch «La Beauté Entre» (Die Schönheit tritt ein) zu nennen. Das Wort «entre» hat hier im Französischen eine doppelte Bedeutung: 1. Es kann bedeuten, dass die Schönheit eintrifft (Die Schönheit tritt ein). 2. Es kann die Schönheit bezeichnen, die sich zwischen zwei oder mehr Sprachen, zwei oder mehr Kulturen befindet (Die Schönheit dazwischen).

Mir war bewusst, dass kein deutsches Synonym beide Bedeutungen übertragen könnte, und hielt es somit für eine ausgezeichnete Wahl, die von vornherein die Fragen und Herausforderungen ankündigen würde die jede Übersetzung mit sich bringt. Außerdem habe ich auf jener Metapher des Eigennamens von Nofretete meine Dramaturgie aufgebaut. Damit wollte ich die Übersetzer*innen als Vermittler*innen der Schönheit loben.

Der Produktionsleiterin Nina de la Chevallerie gefiel der Titel jedoch nicht und sie bat mich, ihn zu ändern. Zunächst war ich verärgert und traurig darüber, dass sie nicht in der Lage war, all die komplexe Arbeit sprachlicher Komposition zwischen den Sprachen zu würdigen, die sich hinter dieser Entscheidung verbarg, und die Poesie, die in dem von mir gewählten Titel mitschwang. Nach längerem Nachdenken entschied ich mich jedoch, die Situation aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und die Meinungsverschiedenheit über die Übersetzung des Stücktitels in das eigentliche Thema des Stücks einzubeziehen. So kam es schließlich dazu, dass Nina und ich am Ende des dritten Akts mit dem Titel «Das Bild muss aus dem Rahmen fallen» in einem Video auftreten, das unsere nicht immer einfachen und angenehmen Gespräche über die Wahl und Übersetzung des Stücktitels ins Deutsche dokumentiert. Der künstlerische Schaffensprozess wurde somit zu einem Teil des Kunstwerks.

 

Szene aus Meriam Bousselmis Stück «Der Titel ist frei übersetzbar» (Foto: Toni Säckl)

Diese Haltung veranlasste mich außerdem dazu, verstärkt tatsächliche Übersetzungstechniken zu verwenden und sie konkret in die ästhetischen Entscheidungen meines Werks zu übersetzen. So kam ich auf den Kniff, Nina vorzuschlagen, den französischen Titel beizubehalten und nicht ins Deutsche zu übersetzen, sondern das Stück auf Deutsch Der Titel ist frei übersetzbar zu nennen. Wäre ich nicht mit der Frage nach der Übersetzung und der Rezeption des Originals in einer Fremdsprache konfrontiert gewesen, wäre ich niemals auf diesen Titel gekommen, den ich spielerisch und gleichermaßen kurios und witzig finde. Auf die Idee brachte mich die in der internationalen Filmbranche, aber auch auf dem internationalen Buchmarkt übliche Praxis, dass Produzent*innen oder Verleger*innen aus Marketinggründen aus einer anderen Sprache übersetzte Filme oder Bücher umbenennen, weil sie der Meinung sind, die neuen Titel könnten für das breite Publikum und die einheimischen Leser*innen attraktiver sein.

In jüngerer Zeit und im Zuge länderübergreifender Protestbewegungen wie Black Lives Matter hat die Umbenennung und Neuübersetzung von Kunstwerken jedoch eine andere Dimension angenommen, die manche als ethisch und andere als politisch bezeichnen. So wurde 2020 beispielsweise Agatha Christies 1939 in Großbritannien veröffentlichter Kriminalroman Ten Little N* neu ins Französische übersetzt und dabei in Ils étaient dix (Sie waren zehn) umbenannt. Die Neuübersetzung hat es vor allem ermöglicht, den rassistischen Begriff «N*», der in der Erzählung 74mal wiederholt wird, durch den Begriff «Soldat» zu ersetzen.

Übrigens wählte ich für meine Figuren Eigennamen, die die Wort- und Aussprachespiele, aber auch die Machtfragen widerspiegeln, die sich hinter jeder Übersetzung und jeder Sprachpolitik verbergen. Ein Eigenname kann «alle sprachlichen Kämpfe zwischen zwei Kulturen zusammenfassen«, sagt die Figur Farah Roswitha Boumaza. Man darf nämlich nie vergessen, dass Sprache ein Kriegsschauplatz ist. So kam es, dass, «unter dem Vorwand der sprachlichen und kulturellen Harmonisierung der französische Kolonialherr die Namen der Algerier entstellt und sie gezwungen hatte, vulgäre, beleidigende, erniedrigende, obszöne Namen und Schimpfnamen zu tragen. Namen, die auf tabuisierte Körperteile und Exkremente verweisen oder sich auf Tiere beziehen. Namen wie «Kbir Ras» (Großer Kopf), «Boukhenouna» (Derjenige, der Nasenpopel besitzt), «Boukelba» (Derjenige, der einen Hund besitzt) oder «Boumaza» (Der Mann mit der Ziege), mein Name».

Schließlich führte die Übersetzung der Eigennamen einiger Figuren zu komischen Szenen. Zum Beispiel als Rabih Halal, die Figur eines syrischen Emigranten in Deutschland, der weder Deutsch noch Englisch spricht , einer jungen deutschen Frau auf einem Bahnsteig den Hof macht und ihr begeistert erzählt, er heiße Rabih, was «I’m the spring» bedeute. In einer anderen Szene wird Rabih Halal von Monsieur de la Chevalerie l’hôte du Congrès des Mal-compris, der wiederum «Herr Schakal» genannt wird, als «Rabbi Islam-konform» bezeichnet. Die Bühne verwandelt sich so in eine Art dramatisches google translate-Labor, in dem die durch falsche Aussprache verstärkten Übersetzungsfehler neue sprachliche und semantische Lücken reißen. Dadurch entstehen neue Wortkonzepte wie «Zusammenkeit» oder die Kunst, zusammen zu sein, indem man sich dem Horizont eines anderen «Selbst», einer anderen Welt öffnet. Eine Kunst, die den Liebhaber*innen, Verteidiger*innen und Praktiker*innen der Übersetzung wohlbekannt ist.

 

[1] Zu diesem Thema sei die Ansicht eines Interviews mit dem Übersetzer von Harry Potter ins Französische, Jean-François Ménard, empfohlen: Er erklärt darin seine Arbeitsweise und die Absicht hinter der Entscheidung, einige Eigennamen zu übersetzen, andere jedoch in der Originalsprache Englisch zu belassen. https://www.youtube.com/watch?v=RGRV54ahsWA

[2] Zum Beispiel folgender Artikel von Wael Abd El-Fattah (auf Arabisch): https://www.medinaportal.com/sensorship-tranlation/?fbclid=IwAR1FhsqLJ-MEcgzkiRwCTDs0h30CO6yapx65f7p10q3yTHhkeR47gt0nNBQ

[3] Link zu Ahmad Farouks Artikel (auf Arabisch): https://raseef22.net/article/1083631-%D8%AA%D8%B1%D8%AC%D9%85%D8%A9-%D8%AE%D8%A7%D9%84%D9%8A%D8%A9-%D9%85%D9%86-%D8%A7%D9%84%D9%83%D8%AD%D9%88%D9%84-%D8%AA%D9%82%D8%B1%D9%8A%D8%A8%D8%A7-%D8%B9%D9%86-%D8%B9%D9%8A%D9%86-%D8%A7%D9%84%D8%B1%D9%82%D9%8A%D8%A8-%D8%A7%D9%84%D8%B3%D8%A7%D9%87%D8%B1%D8%A9-%D9%81%D9%8A-%D9%85%D8%B4%D8%B1%D9%88%D8%B9-%D9%83%D9%84%D9%85%D8%A9?utm_content=buffer71f0d&utm_medium=social&utm_source=facebook.com&utm_campaign=raseef22_page&fbclid=IwAR1AfhCB2kUzsw3fF16glyNwXFWJU5HY895UcSTkHGvEBqc-PxicMaw0HnY

[4] Weitere Informationen über die Produktion hier: https://boatpeopleprojekt.de/programm/stuecke-archiv/der-titel-ist-frei-uebersetzbar

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

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Trailer der Produktion La Beauté Entre (Der Titel ist frei übersetzbar):

 

Mitschnitt der Produktion La Beauté Entre (Der Titel ist frei übersetzbar):

 

Foto: Salama Bousselmi

Meriam Bousselmi, geboren 1983 in Tunis, studierte Rechts- und Politikwissenschaft an der Universität Tunis Karthago. Sie ist eine mehrsprachige Autorin, Regisseurin, Rechtsanwältin, Dozentin, Forscherin und Brückenbauerin. Sie forscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit im DFG-Graduiertenkolleg 2477 – Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim zur Inszenierung von Gerechtigkeit und setzt dieses Thema auch künstlerisch um.
In ihrer künstlerischen Praxis verbindet Meriam Bousselmi die unterschiedlichsten Formen des Erzählens: literarische Texte, Theaterinszenierungen und performative Installationen. Sie reflektiert anhand verschiedener ästhetischer Formen die gegenwärtigen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Indem sie Genregrenzen überschreitet und sich mit Tabuthemen auseinandersetzt, gibt sie ein kritisches Bild unserer Zeit wieder. Ihre Arbeiten werden zu einem künstlerischen Statement gegen politische Manipulationen und die vorherrschenden negativen Narrative unserer Welt.
2018 ist Meriam Bousselmi nach Berlin gezogen und hat seitdem einen mehrsprachigen Schreibstil und einen transkulturellen künstlerischen Ansatz entwickelt. Ihre neuen Projekte übersetzen Begriffe wie Dialog, Transfer und Vermischung von Erzählweisen in die Praxis.
Ihr neues Stück «Schuldmonologe», aus dem Französischen übersetzt von Corinna Popp, und gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR, wird am 15., 16. und 17. Juni 2023 in Kooperation mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin aufgeführt.

https://www.volksbuehne.berlin/#/de/veranstaltungen/schuldmonologe-portraits-unschuldiger-personen-und-objekte-3

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