Lara Wenzel über den kürzlich erschienenen Sammelband «Theater-wissenschaft postkolonial/ dekolonial» Zur Dekolonisierung von Theater und Universität

2014 erklärte Erika Fischer-Lichte ein Zeitalter jenseits von Postkolonialismus in der Theaterwissenschaft für angebrochen. In dem von ihr, Torsten Jost und Saskya Iris Jain herausgegebenen Sammelband «The Politics of Interweaving Performance Cultures. Beyond Postcolonialism» schreibt sie in der Einleitung vom utopischen Potential verflochtener Theaterpraktiken in einer globalisierten Welt. Während Exotisierung und Othering¹ auf europäischen Bühnen noch immer ein probates Mittel ist, blickt die Berliner Theaterwissenschaftlerin hoffnungsvoll auf Performance Kulturen, in denen sich verschiedene Praktiken durchdringen, ohne ihre Differenz dadurch aufzuheben. Damit rufe sie das Ende einer Auseinandersetzung aus, die noch gar nicht begonnen hat, meinen die Herausgeber*innen von «Theaterwissenschaft postkolonial/dekolonial«.

In der Einleitung zum Sammelband stellen die Theaterwissenschaftlerinnen Azadeh Sharifi und Lisa Skwirblies fest, im deutschsprachigen Raum halten postkoloniale und dekoloniale Ansätze gerade erst Einzug in Universitäten und Kulturinstitutionen. «Im Gegensatz zu den zahlreichen Studien zu Geschlecht, Sexualität, Klasse und mittlerweile auch Behinderung sehen wir in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft eine klaffende Lücke, wenn es um Fragen zu race geht», schreiben sie.

Die Dekolonisierung der Disziplin und ihres Gegenstands geschieht in Verbindung von Forschung, künstlerischer Arbeit und Aktivismus. Aus diesen nicht klar abzugrenzenden Bereichen versammelt der Band 18 Beiträge, die bewusst mit den Erwartungen an akademische Texte brechen. In autobiographischen Anekdoten oder Gesprächen teilen die Autor*innen ihr Wissen und beziehen politische Positionen. Die Theaterwissenschaftlerin Anika Marschall, die derzeit als Postdoctoral Fellow in Dramaturgie an der Aarhus University arbeitet, kennt die Vorwürfe, die bei solcher Parteinahme erhoben werden. In «Über akademische Grenzschützer*innen und aktivistische Akademiker*innen. Für eine Theaterwissenschaft der Zuflucht.» erzählt sie, wie ihr auf Konferenzen Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen wurde, weil sie sich wohlwollend zu antifaschistischer und antirassistischer Theaterarbeit äußerte. Es gelte ein Neutralitätsgebot in der Disziplin, die nur von hegemonialer Position behauptet werden kann. Wissensproduktion und gesellschaftliches Engagement sollen getrennt voneinander ablaufen – soweit das akademische Dogma.

Marschall plädiert hingegen für eine parteiische Wissenschaft, die sich nicht nur mit den gelehrten Inhalten, sondern auch mit ihrer Struktur auseinandersetzt. Sie beschreibt Akte alltäglichen Ungehorsams: «Arbeitgeber*innen an Hochschulen in Großbritannien sind dazu verpflichtet sowohl internationale Studierende (= ohne britische Staatsbürgerschaft) als auch internationale Angestellte an das Home Office (britisches Innenministerium, Anm. d. Redaktion) zu melden, sofern sie mehrere Tage ‚unbefugt‘ abwesend sind.», erklärt sie. Das kann zur Ausweisung führen. Um dies zu umgehen, füllt sie Anwesenheitslisten auch bei Abwesenheit aus und bietet neben den bürokratischen Wegen Unterstützung an. «Theaterwissenschaft muss aktivistisch gelehrt, geforscht, verwaltet, organisiert und gelebt werden, wenn sie sich als postkolonial versteht.», betont sie.

Die Kanonerweiterung ist nur ein erster Schritt, schreibt auch Sruti Bala in «Dekolonisierung der Theaterwissenschaft und Performance Studies. Geschichten aus dem Seminarraum», wo die Associate Professorin an der Universität Amsterdam fordert, dass politische und theatrale Praxis verflochten werden müssen, um die Universität zu dekolonisieren. Es brauche «neue Arten und Weisen des Denkens anstelle neuer, hinzugefügter Objekte, über die nachgedacht werden kann.» Methodisch versucht der Band dies umzusetzen und stellt Gespräche mit Theaterkünstler*innen neben Texte kulturpolitischer Akteur*innen.

Im Beitrag von Julius Heinicke, Professor für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim, zeigt sich ein großes Problem vieler postkolonialer Ansätze. Sie scheitern daran Antisemitismus und die Shoah in ihrer Spezifik mit ihrer Theorie zu verbinden. Im Text «Postkoloniale Kulturpolitik» kommt es zur Gleichsetzung von kolonialen Macht- und Unterdrückungsstrukturen und der antisemitischen und rassistischen Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus. Der Autor beginnt mit einer vorsichtigen Verteidigung von Achille Mbembe, der – wie betont wird – jenseits seiner Position zum Staat Israel, riskante, aber notwendige Vergleiche ziehe, z. B. zwischen der Vernichtung von Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus und der Apartheid. Er knüpft damit an die Debatte nach der Ausladung Mbembes von der Ruhrtriennale 2020 an. Weil er der in Deutschland als antisemitisch eingestuften BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) nahesteht und antisemitische Israelkritik äußert, wurde sein Vortrag gestrichen, was Diskussionen um Antisemitismus und Postkolonialismus nach sich zog. Weiter heißt es bei Heinicke in Bezug auf Mbemebes Vergleiche:

«Im Kontext einer postkolonialen Fragestellung ist diese Verbindung nicht unwichtig, da ersichtlich wird, dass den antisemitischen und rassistischen Strukturen im nationalsozialistischen Denken neben antijudaistisch-christlichen, also religiösen, auch koloniale, demnach kulturpolitische Muster innewohnen, die sich über die Jahrhunderte in der westlichen Welt etabliert haben und zu vielerlei rassistischen Gesetzen geführt haben.»

In einem Durcheinander unscharfer Begriffe endet Heinickes Argumentation darin, Rassismus, Antiziganismus, Antisemitismus und infolgedessen auch die Shoah auf koloniales Denken zurückzuführen. Das ist eine Relativierung und Vereinfachung, die weder die Spezifik kolonialer Gewalt noch die Vernichtung von Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus fassen kann. Es ist ein Text mit ausnehmend plumper Argumentation, der in gestelzter, akademischer Art daherkommt, aber auf dem Niveau eines polemischen Tweets bleibt.
Es bleibt unklar, warum Heinicke hier eine Verteidigung Mbembes liefert, die sich durch den ganzen Text zieht. Er versucht daraus eine Kritik an rassistischen Institutionen und ihrem exkludierenden Charakter zu formulieren und schreibt: «Die sogenannte ‚cancel culture‘ macht sich einen kolonialen Gestus zu eigen, sie zensiert gesellschaftspolitische Vielfalt und versucht Institutionen zu einer Agentin ihrer eigenen Diskurshoheit zu instrumentalisieren.» Verloren geht dabei – vermutlich ist das mit dem Begriff des «kolonialen Gestus», der für Machtbeziehungen schlechthin zu stehen scheint, auch nicht mehr zu differenzieren – dass Mbembe aufgrund des antisemitischen Antizionismus im postkolonialen Diskurs ausgeladen wurde. Auch wird der tatsächliche Rassismus in deutschen, akademischen und kulturellen Institutionen verharmlost, wenn er in Mbembes Fall auf diese Weise angeführt wird.

Vom Versuch, Räume zu dekolonisieren und gelungene Theaterarbeit umzusetzen berichten Theaterkünstler*innen wie Joana Tischkau und Simone Dede Ayivi. Ihre Inszenierungen spielen sich hauptsächlich vor weißem Publikum ab. Das führt zu einigen Missverständnissen, in denen sich Wissenshegemonien spiegeln. «Oft findet eine Re-interpretation meiner Arbeiten durch weiße Zuschauer*innen, also auch Kritiker*innen, statt. Und ich weiß, dass einem Schwarzen Publikum diese Fehler nicht unterlaufen.», berichtet Simone Dede Ayivi in «Schwarzes Wissen, weiße Sehgewohnheit». Sowohl Theaterkritik als auch wissenschaftliche Aufführungsanalyse werden häufig aus unmarkierter weißer Perspektive verfasst. Wissensdefizite, die ein Schwarzes Publikum nicht hätte, sollten aufgeholt werden, fordert die Autorin. Sonst komme Gedeute im Gestus von Lehnstuhl Ethnolog*innen heraus. Ein Vorschlag der Herausgeberinnen ist es, weißes Unwissen in wissenschaftlichen Analysen stärker herauszustellen, auch wenn dies akademischen Gepflogenheiten widerspreche.

In der ersten zusammenfassenden Publikation über postkoloniale Theorie und Dekolonisierung überzeugen besonders die Erfahrungsberichte von akademischen und künstlerischen Praktiker*innen. Leider überschattet Heinickes Beitrag und seine Ignoranz gegenüber strukturellem und antizionistischem Antisemitismus die Publikation, die auch hilfreiche und differenzierte Beobachtungen und Analysen über postkoloniale Gesellschafts- und Theaterformen wie auch rassistische Gewalt in Institutionen liefert.

 

¹ Othering beschreibt die Konstruktion von Eigenem und Fremdem, wobei letzteres meist abgewertet wird.

Die Theaterwissenschaftlerin und Performerin Lara Wenzel (Foto: Emilia Trog)

Lara Wenzel, geboren 1998 in Rudolstadt, studiert Theater- und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig. Seit 2020 schreibt sie als freie Autorin u.a. für Theater der Zeit, nd und kreuzer. Sie ist Teil des feministischen Performance-Kollektivs IRIS X. Sie ist Teil des Archivprojekts «erinnerungsbühne:ost» und arbeitet dort zu strukturellen und künstlerischen Veränderungen in der ostdeutschen Theaterlandschaft.

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