Bobby Theodore im Gespräch mit Frank Weigand «Es ist nicht deine Aufgabe, das Stück besser zu machen»

FW: Herzlich willkommen zu diesem allerersten Übersetzer:innengespräch auf Englisch. Es ist auch für mich eine Art Premiere, nachdem ich mit mehreren Kolleg:innen in Deutschland oder deutschsprachigen Kolleg:innen über Fragen der Theaterübersetzung gesprochen habe, und darüber, was der Unterschied zwischen dem Übersetzen von Prosa und dem Übersetzen von Theaterstücken ist. Wir haben immer wieder festgestellt, dass die Art und Weise, wie wir arbeiten, so sehr von dem System abhängt, in dem wir arbeiten. Deshalb dachte ich, dass es interessant sein könnte, eine breitere Perspektive einzunehmen und mit Kolleg:innen aus unterschiedlichen Ländern zu sprechen. Vielen Dank also, Bobby Theodore, dass du hier bei uns bist. Du lebst und arbeitest in Toronto. Du bist hauptsächlich als Drehbuchautor tätig, aber du arbeitest auch als Theaterübersetzer.

BT: Ich arbeite als Drehbuchautor, als Übersetzer, als Dramatiker und als Story Editor. Außerdem auch als conseiller dramatique, also Dramaturg, wie man in Deutschland sagen würde. Ich unterrichte auch Drehbuchschreiben an der National Theatre School of Canada. Und ich habe angefangen, Texte für Museums-Audioguides zu schreiben, was mir sehr viel Spaß macht.

FW: Du hast gerade die National Theatre School in Montreal erwähnt. Zu Anfang deiner Karriere hast du dort Szenisches Schreiben studiert. Und dann? Wie bist du vom Dramatiker zum Übersetzer geworden?

BT: Als ich an der National Theatre School Szenisches Schreiben studierte, war das Programm sehr kurz. Es dauerte nur zwei Jahre. Und nach meinem Abschluss hatte ich das Gefühl, nicht alles wirklich verstanden zu haben. Denn ich kam von der Lyrik zum Schreiben von Theaterstücken, und die Idee von Struktur, Dramaturgie und Geschichtenerzählen war mir sehr fremd, und ich hatte mich anfangs sehr dagegen gewehrt. Ich bin mit der Erwartung in die Schule gegangen, stärker kollektiv zu arbeiten. Dann merkte ich, dass alles dort sehr auf das Schreiben ausgerichtet war, und irgendwann habe ich mich wirklich dafür begeistert. Aber ich wollte unbedingt noch mehr lernen. Dann bot sich mir die Gelegenheit, ein Theaterstück zu übersetzen, und ich fand, dass dies eine gute Möglichkeit war, mich diesem Thema weiter zu nähern. Ich dachte, warum nicht? Schließlich habe ich ein sehr gutes Gehör und konzentriere mich sehr auf den Klang der Worte. Vorher habe ich selbst Theatertexte geschrieben, und mein Französisch war gut genug. Ich bin nicht perfekt, aber ich war in der Lage zu übersetzen. Das erste Stück, das ich übersetzt habe, war 15 Secondes von François Archambault. Und ich bekam eine ganze Reihe von Mentoren, Möglichkeiten und Unterstützung. Es war, als würde ein Traum wahr. Ich konnte an einer Übersetzerresidenz in Tadoussac teilnehmen. Ich durfte das Banff Centre besuchen und hatte einen Übersetzungsworkshop mit Schauspielern. Außerdem war für ein Jahr später eine Produktion garantiert. Es gab also eine ganze Kette von Ereignissen, die diese erste Übersetzung unterstützten. Das verschaffte mir einen Zugang zu dieser Tätigkeit und eine Art Weiterbildung als Dramatiker, die ich sonst nicht gehabt hätte.
Und dann war das Stück sehr erfolgreich und wurde im ganzen Land aufgeführt. Und das hat mich auf den Geschmack gebracht, weiterzumachen. Denn ich dachte, ich würde reich werden (lacht). Nein, aber ich habe es wirklich genossen. Außerdem ist dadurch eine wunderbare Beziehung zu Francois entstanden, und wir arbeiten bis heute zusammen. So habe ich also angefangen. Es war Shelley Tepperman, die mir diesen Job gab, weil sie selbst zu sehr beschäftigt war, und dann hat sie mich ein wenig betreut. Maureen Labonté war eine meiner anderen Mentorinnen, ebenso wie Linda Gaboriau. Sie haben mir geholfen und mir buchstäblich die ganze Zeit über die Hand gehalten.

FW: Ich denke, das ist eine Gemeinsamkeit unserer beiden Länder: Theaterübersetzung kann man nicht wirklich studieren. Das ist etwas, das man nur durch Praxis lernt. Indem man an Produktionen teilnimmt und vielleicht durch Workshops mit anderen Übersetzern.

BT: In Kanada gibt es tatsächlich Übersetzungsstudiengänge, bei denen man sich vielleicht dafür entscheiden könnte, Theater zu übersetzen. Aber die meisten Leute entscheiden sich für Prosa oder Lyrik. Ein Theaterstück zu übersetzen ist eine spezielle Sache, man braucht eine gewisse Bühnenerfahrung, um zu verstehen, wie Dialoge funktionieren. Das ist kein literarisches Übersetzen. Das ist es, was ich den Leuten immer sage. Ich bin kein Literaturübersetzer. Ich bin Theaterübersetzer, und das ist eine sehr kollaborative Angelegenheit. Ich weiß, dass es in Deutschland anders ist, aber hier würde ich niemals einfach ein Stück übersetzen und es abschicken, und dann ist es fertig. Ich brauche für jede Übersetzung einen Prozess, an dem ich beteiligt bin. Manchmal läuft das anders, aber dann ist die Arbeit nicht befriedigend und meiner Meinung nach ist das auch nicht die richtige Arbeitsweise.

FW: Wenn wir deine Situation mit meiner vergleichen, dann übersetzt du innerhalb desselben Landes von einem Theatersystem in das andere. Vom québecer System, das sehr, sehr unterschiedlich ist, wenn man es mit der so genannten «anderen Seite» vergleicht. Aber trotzdem immer noch innerhalb desselben Landes.

BT: Ganz genau. Von einer Kultur in eine andere. In Kanada lieben wir solche Verallgemeinerungen, die Vorstellung von den «deux solitudes» (also von einem französischsprachigen und einem englischsprachigen Kanada, die sich ganz massiv unterscheiden) und all diese Dinge. Als ich in Montreal lebte, und ich habe dort 40 Jahre lang gelebt, ich bin dort aufgewachsen, habe ich immer diese Vorstellung akzeptiert, dass es Québec und «the ROC» («the rest of Canada») gibt. Aber wenn man an einem Ort wie Toronto lebt, wird einem klar, wie vielfältig das Land ist und dass es dort nicht nur ein System gibt.  In Bezug auf die Finanzierung von Kultur ist es tatsächlich hauptsächlich ein System. Alles wird vom Canada Council for the Arts, den lokalen Arts Councils und so weiter finanziert, und diese Finanzierungsmodelle diktieren bis zu einem gewissen Grad, wie Dinge gemacht werden. Aber die Theatersysteme auf nationaler, regionaler und mikroökonomischer Ebene unterscheiden sich sehr stark, so dass Dinge je nach Kultur auf unterschiedliche Weise umgesetzt werden. Es ist also sehr viel vielfältiger, als wir glauben.
Die Vorstellung der Besonderheit von Québec ist ein bisschen Propaganda. Der große Unterschied ist jedoch, dass in Québec das geschriebene Wort sehr geschätzt wird. Autor:innen sind dort wirklich angesehen, und im Theater ist es fast so, als ob sie eine privilegierte Position hätten. Im restlichen Kanada sind die Autor:innen auf Augenhöhe mit vielen anderen. Sie sind nur eine weitere Person, die an einer Produktion arbeitet, in dem Sinne, dass alle gleichberechtigt sind. In Deutschland steht der Autor wahrscheinlich ziemlich weit unten in der Hierarchie. Die Hierarchie in Québec ist anders als in Kanada, und das hängt mit der nationalistischen Bewegung zusammen. Dort geht es darum, eine starke Kultur zu haben, in der Theater, Kunst und andere Dinge einen großen Wert besitzen. Wenn man heute jemanden in Québec fragen würde, wie die Kunst dort angesehen wird, hätte er das Gefühl – vor allem im Theaterbereich -, dass sie überhaupt keine Rolle spielt, weil sich niemand für sie und das, was dort passiert, interessiert. Aber in Wirklichkeit hat Kultur in der québecer Gesellschaft immer noch eine größere Bedeutung als sonstwo in Kanada.
Ich übersetze also ein Produkt, das von einem Ort der Macht und des Einflusses kommt, an einen Ort, an dem die Dinge völlig anders laufen, auch in Bezug auf die Rezeption. Außerdem gibt es natürlich noch die kulturellen Unterschiede, mit denen wir umgehen müssen. Interessant ist, dass wir Übersetzer:innen nicht als Künstler:innen gesehen werden. Wenn ich ein Stück übersetzen will, kann ich selbst keine Fördermittel beantragen. Ich habe keinen Zugang dazu.

FW: Wer stellt denn dann einen Förderantrag für eine Übersetzung?

BT: Ich muss eine Theatercompany bitten, eine Förderung zu beantragen, um mich bezahlen zu können. Ich kann nicht direkt sagen: «Ich mag dieses Stück sehr. Ich werde es übersetzen und dann in Umlauf bringen.» Ich muss eine Zusage von einer Theatercompany bekommen, bevor sie es überhaupt lesen. Ich muss also sehr viel Lobbyarbeit leisten.

FW: Wenn du das Stück übersetzt, befindest du dich also von Anfang an mitten in einer Produktion. Du übersetzt in einem Produktionskontext, weil du bereits eine Company hast, die…

BT: Nein, nein, nein. Sie verpflichten sich nicht dazu, den Text auch zu produzieren. Sie sagen nur, wir sind interessiert, wir wollen den Übersetzer beauftragen. Das ist ein Auftrag. So wie wenn man als Dramatiker einen Stückauftrag bekommt. Wenn ich mit Companies zu tun habe, sage ich: «Ihr gebt mir einen Auftrag, also behandelt mich wie einen Dramatiker.» Ich denke, Geld ist wichtig. Das ist eine Frage der Einstellung. Es geht darum, dass die Theatercompany diese Übersetzung in Auftrag gibt, und es ist nicht mein Problem, wie sie sie finanziert. Der Canada Council zahlt 0,20 Dollar pro Wort, wenn man eine Förderung erhält. Aber das ist nur ein Teil dessen, was mir die Company zahlen sollte. Ich arbeite nicht pro Wort. Ich pflanze keine Bäume, ich nähe keine Kleider. Ich bin Künstler, bezahlt mich so, wie ihr einen Künstler bezahlen würdet. Das ist mein lebenslanger Kampf. In Québec zahlen Theatercompanies bei Übersetzungen ins Französische nicht pro Wort, sondern ein Gesamthonorar. Und sie warten nicht auf die Finanzierung durch einen Fördertopf. Wenn sie ein berühmtes amerikanisches Stück oder ein berühmtes deutsches Stück übersetzen lassen, dann wird es auch gespielt. Die probieren nicht einfach etwas aus. Sie sagen tatsächlich: Dieses Stück kommt auf den Spielplan.

FW: Du hast fast ausschließlich québecer Stücke übersetzt, oder?

BT: Ja, bis auf eines. Les Justes von Albert Camus. Das war mein einziges Stück, das nicht aus Québec stammte. Außerdem habe ich noch ein belgisches Stück übersetzt.

FW: Gibt es auf den englischsprachigen Bühnen in Kanada Platz für Texte aus Québec?

BT: Nun, das ist eine andere Frage. Vielleicht 15-20% der Stücke, die ich übersetzt habe, wurden produziert. Eine Übersetzung ist also keine Garantie. Und ich glaube, mit der Pandemie wird es nicht besser. Und kurz davor ist eine Menge passiert. Es gab eine große Veränderung in der Politik – mit George Floyd, mit Black Lives Matter, mit der MeToo-Bewegung – das war kurz vor der Pandemie. Viele Dinge haben sich geändert. Die Menschen denken jetzt wirklich über die gesellschaftliche und politische Wirkung von Kunst nach. Für wen sollten wir uns wirklich interessieren? Es wird viel Wert auf lokale Stimmen gelegt und darauf, sich mit dem zu beschäftigen, was hier und jetzt passiert.
Und die meisten québecer Autor:innen betrachten die Dinge vor allem durch eine weiße Brille. Und sie erkennen die Vielfalt in ihrer eigenen Gesellschaft nicht. Ich habe immer nach neuer Dramatik Ausschau gehalten, weil ich Werken eine Stimme geben wollte, die hier keine Stimme haben. Ich wollte ihnen den Zugang zu einer anderen Theaterszene ermöglichen und dafür sorgen, dass andere Leute sie sehen, und das war sehr aufregend. Aber jetzt frage ich mich, ob die Leute wirklich eine weiße Perspektive hören müssen? Natürlich gibt es Ausnahmen. Olivier Choinières Arbeit ist zum Beispiel politisch, sie stellt universelle Fragen. Aber ein Stück, das speziell aus der Perspektive eines weißen Mannes mittleren Alters geschrieben wurde – wenn es sich nicht wirklich selbst in Frage stellt und einfach nur die Machtdynamik aufrechterhält, die gerade erodiert oder sich hoffentlich verschiebt, dann brauche ich keine Plattform dafür.

FW: Es gibt eine noch schwierigere Frage. Du hast gerade über das Problem der weißen männlichen Perspektive gesprochen. Wir sind beide weiße männliche Übersetzer, und du weißt, dass es im Moment diese Debatte gibt, und nicht erst seit der Debatte über die Übersetzungen von Amanda Gorman: Dürfen wir alles übersetzen?

BT: Klar, man kann machen, was man will.

FW: Ja und nein. Ich persönlich denke, ich würde immer noch alles übersetzen, was ich auch vor 15 Jahren übersetzt habe. Aber vielleicht würde ich mir andere Fragen stellen. Ich habe zum Beispiel einige Autor:innen aus dem Kongo übersetzt. Dabei habe ich vor allem die kulturelle und technische Herausforderung gesehen. Und je mehr ich in diesem Bereich arbeite, desto mehr bin ich mir natürlich des Machtungleichgewichts bewusst.

BT: Natürlich darf man tun, was man will. Man muss nur die Konsequenzen dieser Entscheidungen tragen, die Konsequenzen seines Handelns. Aber ich würde nie jemandem sagen, dass er etwas nicht tun darf. Ich sage nur, dass man seine Entscheidungen abwägen sollte, und ich denke, dass gehört einfach zum Übersetzer:innenberuf dazu. Man muss ständig Entscheidungen abwägen, bis zum Überdruss. Wir quälen uns ständig mit unseren Entscheidungen. Wir ringen täglich mit unserem Gewissen und mit unserem Selbstvertrauen. Welches Recht habe ich, dies und das zu tun? Mache ich es richtig? Diene ich diesem Werk und auch dem Publikum? Im Allgemeinen bitten mich Dramatiker:innen, ihre Werke zu übersetzen, weil ich québecer Theater übersetze. Sie betrachten sich selbst als marginalisiert, aber in Wirklichkeit sind sie Teil einer sehr starken Machtbasis. Das québecer Theater hat marginalisierte Stimmen sehr lange ausgeschlossen.

FW: Ich denke, das ändert sich langsam….

BT: Ja, aber sie stehen noch ganz am Anfang. In diesem Herbst habe ich mir ein Stück angesehen, Les Sorcières de Salem, The Crucible, übersetzt von Sarah Berthiaume. Die gesamte Besetzung war weiß, mit Ausnahme der einen Figur, die immer Schwarz besetzt wird. Es ist ja nicht so, dass sie die Darsteller:innen dafür nicht hätten. Der Gedanke war einfach, sie wollten eine komplett weiße Besetzung auf die Bühne stellen, weil es ein historisches Stück war. Ich habe mich gefragt: Was zum Teufel ist hier los? Die gesamte Produktion, jeder im Team, jeder, die gesamte Besetzung ist weiß. Aber wenn man sich das Publikum anschaut, dann ist es total gemischt, also gibt es da eine Diskrepanz.
Ich denke, Übersetzer:innen müssen sich diese schwierigen Fragen stellen. Und wenn sie mit Companies zusammenarbeiten, müssen sie in einem solchen Fall sagen: Ich glaube, es geht hier um eine Darstellung der Gesellschaft. Im Moment übersetze ich das neueste Stück von François Archambault, in dem es um den Klimawandel geht und das eine riesige Besetzung mit 16 Schauspieler:innen hat. In Québec wollen sie es paritätisch besetzen, also gleich viele Männer und Frauen auf der Bühne, das ist eine große Sache für sie. Die Company, die das Stück in Toronto in Auftrag gegeben hat, sagt, wir besetzen das Stück so divers, wie wir wollen, um die Kultur von Toronto oder der ganzen Welt zu repräsentieren. Diese Teile desselben Landes befinden sich also auf einem sehr unterschiedlichen Entwicklungsstand.
Ich muss mich nicht nur fragen, welches Recht ich habe, etwas zu übersetzen, sondern auch, ob es richtig ist, bestimmte Texte zu übersetzen, und auch, wie ich mit einem Dramatiker umgehen soll, der es vielleicht nicht gewohnt ist, das Publikum so zu berücksichtigen, wie ich es tun würde. Soll ich ihm sagen: «Deine Darstellung dieser Figur ist ein bisschen sexistisch. Hast du darüber nachgedacht?  Willst du diese Unterdrückungsgeschichte wirklich fortschreiben?» Wenn es fragwürdiges Material gibt, beginnen wir darüber eine professionelle Diskussion, oder übersetzen wir es einfach, und fertig? Früher hätte ich einfach gesagt, na ja, das ist Teil der Kultur. Jetzt frage ich mich, ob so etwas wirklich unbedingt hinaus in die Welt muss.
Ein Stück, das ich übersetzt habe, bei dem ich mich wirklich gefragt habe, ob ich das machen kann, war La loi de la gravité von Olivier Sylvestre. Darin geht es um zwei nicht-binäre Teenager, die ihre Sexualität erforschen. Ich hatte das Gefühl, dass ich als Heterosexueller keine Ahnung davon habe. Aber ich habe mit dem Dramatiker zusammengearbeitet. Es ist wichtig, nicht zu denken, dass man es allein schaffen kann. Man muss mit anderen kommunizieren, nach dem Motto «Mit uns, nicht über uns». Dieser Dialog ist sehr wichtig. Gute Recherche ist wichtig. Bei Autor:innen ist die Frage ja dieselbe: Hat ein:e Schriftsteller:in das Recht, über etwas zu schreiben, das er:sie nicht selbst erlebt hat? Ja, das darf man. Aber wenn man es tut, muss man es auf eine rücksichtsvolle Art und Weise tun.

FW: Sprechen wir noch einmal über die Produktionsseite. Bei mir kommt es sehr selten vor, dass ich innerhalb einer Produktion arbeite. Es kam nur ein paar Mal vor, dass das Theater ein Stück produzieren wollte und dann plötzlich feststellte, oh, es gibt keine Übersetzung. Also müssen wir einen Übersetzer an Bord haben, und ich habe es während der Proben übersetzt, was sehr schön war. Aber normalerweise bekommen wir in unserem System Aufträge. Wir liefern ein Produkt ab. Wir besprechen es mit dem Verlagslektor, der Lektorin. Und dann geht das Ding in die Welt hinaus und man wird nie wieder angerufen. Wenn man Glück hat, wird man zur Premiere eingeladen, aber manchmal auch nicht.

BT: Richtig, denn der Verlag ist der Auftraggeber und er bringt das Werk in Umlauf.

FW: Ja, Theaterverlage sind wie Agenten für den Text.

BT: Deutschland hat eine viel mächtigere Theaterszene. Es gibt dort so viele Theater. Und es gibt tatsächlich die Möglichkeit, mehrere Produktionen gleichzeitig zu machen, während wir hier aufgrund der geografischen Lage und der Bevölkerungsdichte nicht so viele Theater haben.
Meine Vorgehensweise ist also ganz klar die folgende: Schau, dass du einen Auftrag bekommst. Und dann, bevor es überhaupt produziert wird, gibt mir ein Theater eine Lesung. Sie stellen also eine Besetzung zusammen. Sie organisieren Lesungen. Es kann sogar sein, dass wir einen dreitägigen Workshop machen, damit ich das Stück immer wieder höre, darüber diskutieren kann und Feedback bekomme. Ich beziehe also die Darsteller:innen mit ein, und in einer perfekten Welt ist auch der Autor dabei. Alle sind zusammen im Raum. Der Regisseur, die Schauspieler. Das alles dient der Unterstützung der Übersetzung. Diese Übersetzung ist wie ein neues Stück. Wir testen nicht die Geschichte aus, sondern wir versuchen herauszufinden, ob die Sprache dafür funktioniert.

FW: Gab es für deine Übersetzung von Loi de la gravité schon eine Produktion?

BT: Die auftraggebende Company war dieselbe Company, die das Stück auf Französisch produziert hatte. Sie wollten eine englische Version, die an englischsprachigen Schulen gezeigt werden sollte, und so wurde sie produziert. Sie haben die gleiche Besetzung verwendet.

FW: Das heißt, die veröffentlichte Version deiner englischen Übersetzung ist in gewisser Weise das Produktionsskript, oder hast du sie noch einmal überarbeitet? In Deutschland lautet mein Auftrag, eine Partitur zu schreiben, die von 45 verschiedenen Theatern interpretiert werden kann. Und die füllen sie einfach mit anderen Farben oder geben ihr einen anderen Sound. Wenn ich hingegen innerhalb einer Produktion arbeite, arbeiten wir bereits an einer bestimmten Sprache und einem bestimmten Ton, der vielleicht zu den Schauspielern, vielleicht zum Regisseur, vielleicht zur Stadt passt.

BT: Ja, die veröffentlichte Fassung ist immer mit einem Produkt verbunden. Wenn ein Stück produziert wird, wird es in der Regel anschließend veröffentlicht. Die Inszenierung bestimmt also im Allgemeinen die veröffentlichte Fassung. Manchmal passe ich bestimmte Elemente an, wie zum Beispiel bei Olivier Choinières Ennemi du peuple/Public Enemy. Dieses Stück habe ich «trans-adaptiert». Das heißt, ich musste bestimmte Abschnitte komplett neu schreiben, weil sie unmöglich zu übersetzen waren, da das Original in einem spezifischen lokalen Kontext spielte. Und das war auch der klare Auftrag der Produktion. Wir hatten die Idee, dass es eine Version für jeden Ort der Aufführung geben sollte, weil die Konversation im Text lokal spezifisch ist. Im Herbst wird diese Version veröffentlicht werden. Ich werde dazu einen Kommentar schreiben, der besagt, dass bestimmte Dinge geändert werden können, ja sogar müssen. Einmal habe ich ein Stück übersetzt und der Regisseur hat eine ganz bestimmte Produktionsfassung entwickelt. Er wollte Kürzungen und Änderungen vornehmen. Und als es dann veröffentlicht wurde, dachte ich, dass es eben ein Artefakt wäre, das die Arbeit an dieser spezifischen Produktion wiedergibt. Aber dann meinte der Verleger, dass es ihm wichtig sei, dass das Stück richtig dargestellt wird, also haben wir alle Striche wieder eingefügt. Und ich war wirklich froh, dass wir das getan haben. So kam wirklich das Stück zur Geltung
Ich weiß, dass es in Deutschland anders läuft. Da geht es nicht um den Autor, sondern um die Interpretation des Regisseurs. Wenn man in Nordamerika einem Dramatiker Geld zahlt, um ein Stück zu bekommen, anstatt nur eine Stückentwicklung zu machen oder ein Buch zu adaptieren oder zu tanzen, wenn man jemandem Tantiemen gibt, um seine Worte zu benutzen, dann gibt es auch strenge Regeln, wie zum Beispiel, dass man nichts ändern darf. Wir haben Gesetze. Man darf keine Änderungen vornehmen, ohne den Dramatiker zu konsultieren. Und so habe ich das Urheberrecht an der Übersetzung. Niemand darf Änderungen an meiner Übersetzung vornehmen. Man muss mich bei jedem einzelnen Wort fragen. Und dann arbeite ich mit dem Regisseur, den Schauspielern und allen anderen zusammen, damit es funktioniert. Es geht nicht nur um die Übersetzung. Es geht darum, eine Art Gemeinschaft um das Stück herum zu schaffen. Und ich glaube, dass das wichtig ist. Man muss sichergehen, dass man die Kultur, aus der das Stück kommt, wertschätzt, aber auch das Publikum und darf sich nicht zu viele Freiheiten herausnehmen. Wenn du zum Beispiel eines dieser Stücke aus dem Kongo nimmt und beim Übersetzen irgendwelchen Quatsch machst, was machst du dann? Dann eignest du es dir einfach an, du kolonisiert es. Du löschst die Arbeit des Autos, der Autorin aus und schreibst den Kolonialismus auf der Bühne fort. Wie wäre es, wenn man diesem Dramatiker oder dieser Kultur eine Stimme oder eine Plattform geben würde und die Möglichkeit, von anderen Menschen gesehen zu werden, ohne an ihrer Arbeit herumzupfuschen?

FW: Allerdings ist die Theaterkultur in Deutschland ganz anders. Der Regisseur kann hier bis zu 20 % des Textes ändern, ohne gegen ein Gesetz zu verstoßen. Das Stück darf immer noch denselben Titel tragen, weil es eben seine Interpretation des Stücks ist. Das ist eine ganz andere Kultur. Die großen Staatstheater in Deutschland sind wie große Unternehmen. Ich hatte einmal eine Diskussion mit einem Übersetzerkollegen, der Dramaturg am Deutschen Theater ist, und ich fragte ihn, warum ein großes Theater so selten Übersetzer:innen nach ihrer Meinung fragt. Und er sagte mir: «Theater ist wie Krieg. Ich muss mit den Schauspielern kämpfen, ich muss mit dem Regisseur kämpfen. Ich bin mittendrin. Wir haben schon genügend inhaltliche und logistische Probleme. Da werde ich doch keine weitere Front aufmachen, indem ich den Übersetzer anrufe.» Natürlich ändern sich die Dinge langsam, denn die Leute fangen an zu begreifen, dass Übersetzer:innen die Personen sind, die den Text kennen, und dass viele der Fragen, auf die man während der Produktion stößt, vielleicht die Fragen sind, an denen der Übersetzer, die Übersetzerin bereits gearbeitet haben. Bei euch herrscht eine ganz andere Logik. Du sagt, du musst eine Menge Pitching machen, um eine deiner Übersetzungen an ein Theater zu bringen. Aber immerhin schätzen sie dann deine Anwesenheit.

BT: Ich gehe normalerweise nur zu den ersten drei Probentagen. Die Zeit ist kostbar. Wir arbeiten nicht im Repertoiresystem. Wir haben nur dreieinhalb Wochen Probenzeit für eine Produktion. Ich möchte also nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Wenn die Übersetzung produziert wird, haben wir bereits die ganze Vorarbeit geleistet. Zum Beispiel bei Olivier Choinières Public Enemy. Es sollte kurz vor Ausbruch der Pandemie produziert werden. Zur gleichen Zeit wie sein Stück Zoë. Die beiden Texte sollten in zwei verschiedenen Theatern zur selben Zeit gezeigt werden. Das ist großartig, denn es gibt einen Dialog zwischen diesen Stücken. Um sie auf die Bühne zu bringen, haben wir drei Workshops gemacht. Drei Wochen lang. Die Besetzung war schon fertig und es konnte losgehen. Zu diesen Proben wäre ich gerne gegangen. Ich finde das deutsche System interessant, aber die Einstellung zu ausländischen Texten oder der Umgang mit Texten überhaupt ist dadurch geprägt, dass Deutschland eine Kolonialmacht war. Sie hatten das Gefühl, dass die deutsche Sicht der Dinge wichtiger war als die Sicht der anderen. Und so ist es auch in Frankreich. Wenn die dort übersetzen, verändern sie den Text komplett. Sie passen ihn sofort an, sogar Texte aus Québec. Ich denke, diese Haltung ist verinnerlicht und kommt in der Arbeit auf der Bühne zum Ausdruck.

FW: Ich denke, es ist immer ein sehr schmaler Grat. Wie sehr will man zeigen, dass diese Sache eigentlich aus einer anderen Kultur stammt? Und wie sehr will man, dass sie auf der Bühne in der eigenen Kultur funktionieret? Ich glaube, das ist immer eine Art Verhandlung. Manchmal sieht man einen Satz und denkt sich: Wow, wenn ich hier zwei Wörter ändere, hätte das eine großartige Wirkung.

BT: Vielleicht solltest du das mit dem Autor besprechen, oder nicht?

FW: Ja und nein, denn der Autor kennt die Zielkultur nicht wirklich. Letztendlich ist man selbst verantwortlich für das, was man tut.

BT: Ich habe ein gewisses Vertrauensverhältnis zu den Autor:innen, mit denen ich zusammenarbeite, und ich habe auch den Vorteil, dass sie etwas Englisch sprechen, so dass ich einfach sagen kann: «Wenn wir das oder das machen, würde das funktionieren?»  Manchmal tue ich das und sie sagen: «Oh, aber wenn du das machst, ist das nicht richtig.» Meine tollen Ideen sind also oft gar nicht so toll. Es ist gut, einen Dialog zu führen. Es ist nicht deine Aufgabe, das Stück besser zu machen. Ich gehe nicht an ein Stück heran, als ob irgendetwas daran nicht in Ordnung wäre. Manche Dinge können problematisch sein. Aber warum versuchen wir immer, es dem Publikum bequem zu machen? Wir wollen, dass die Botschaft oder das Gefühl oder der dramatische Bogen des Stücks transportiert wird. Vielleicht sollte sich das Publikum ein bisschen Mühe machen müssen. Ich glaube, Leute, die sich eine Übersetzung ansehen, wissen in der Regel, dass das Stück von woanders kommt, also ist das für sie in Ordnung.

FW: Alle Projekte, über die wir gerade gesprochen haben, wie die beiden Choinière-Stücke, wurden vor der Pandemie geplant. Seit zwei Jahren haben wir jetzt eine ganz andere Situation. Texte, die wir übersetzt haben, werden nicht inszeniert. Leute wie Schauspieler und Musiker haben keine Arbeit. Es ist eine schreckliche Zeit. Hast du eine Vorstellung davon, wie sich das System, in dem du lebst, dadurch verändern wird? Zum Beispiel in Kanada, in Ontario?

BT: Ich weiß nicht einmal, ob ich jemals wieder am Theater arbeiten werde. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass gerade jetzt eine Menge Stücke geschrieben werden. Autor:innen werden schreiben. Hier in Nordamerika haben wir nicht so etwas wie ein allgemeines Grundeinkommen für Künstler. Wir haben nicht genug Unterstützung für die Kunst, also sind wir an solche Situationen gewöhnt. Nur sehr wenige Künstler:innen verdienen ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit Kunst. Traurigerweise werden Leute, die sich bisher immer so gerade noch über Wasser gehalten haben oder denen es ging wie mir  – ich habe alle fünf Jahre mal  ein paar Produktionen -, einfach irgendwann etwas anderes machen. Es haben schon immer nur die Stärksten überlebt. Der Schwerpunkt der staatlichen Unterstützung lag auf dem Überleben von Institutionen, nicht von Einzelpersonen, in der Hoffnung, dass die Institutionen dem Einzelnen beim Überleben helfen würden. Aber so funktioniert das nicht. Es gab nie genug Mittel für alle. Und jetzt gibt es wirklich zu wenig. In Irland haben sie gerade ein Gesetz verabschiedet, das ein universelles Grundeinkommen für Künstler vorsieht. Das wäre eine Lösung. Ich hatte großes Glück, denn ich hatte Einkommenseinbußen, die ich als Folge der Pandemie geltend machen konnte. Ich konnte Geld vom Staat bekommen, als Ausgleichsleistung für diesen Verlust. Aber all dies berücksichtigt nicht alle zukünftigen Produktionen, die gestrichen werden, oder die Zeit, die ich zur Entwicklung eines Projekts brauche oder zur Suche nach neuen Texten. Werden die Leute überhaupt jemals wieder Übersetzungen produzieren wollen? Ich denke, in Zukunft wird alles doppelt so schwer. Von all den beruflichen Beziehungen, die ich aufgebaut hatte, werden etliche abbrechen. Ich versuche, nicht pessimistisch zu sein, weil ich weiß, dass ich großes Glück habe. Meine Frau hat einen Job. Ich habe es geschafft, eine andere Arbeit zu finden, die mit Schreiben und Übersetzen zu tun hat.
Aber Theater zu übersetzen, etwas, das ich wirklich liebe, werde ich vielleicht nicht so bald wieder tun. Aber das ist meine Realität. Wenn man sich mit jemandem wie Leanna Brodie unterhält, hatte sie eine sehr gute Pandemie. Sie hat während der Pandemie Premieren gehabt. Wir leben alle in unterschiedlichen Realitäten.

FW: Ja, genau. Und es gibt auch unterschiedliche Momente. Letzten Herbst hatten wir diesen Moment, als plötzlich alle Theater wieder aufgemacht haben und es einen Produktionsstau gab, als plötzlich jedes große Theater 15 Produktionen hintereinander herausbrachte. Die waren schon geprobt, schon produziert, sie warteten nur noch im Eisschrank.

BT: Public Enemy liegt bei Canadian Stage im Regal und sie sagen immer wieder, ja, wir werden es machen. Aber vor kurzem mussten sie ihre gesamte Spielzeit für diesen Winter absagen. Und so könnte das Stück irgendwann einfach verschwinden. Aber um ehrlich zu sein: Wenn etwas gut genug oder wichtig genug ist, wird es irgendwann auch gemacht. Die Welt der Theaterübersetzung war schon vor der Pandemie am Schrumpfen. Zumindest an den englischsprachigen Theatern in Québec. Sie ist bereits geschrumpft, weil wir keine zwangsläufige Produktionslogik haben und es keine Plattform gibt. Alles hängt von den Übersetzer:innen ab. Wir haben immer wieder bei Null angefangen. Jetzt fangen wir bei minus 100 an. Das ist einfach die Realität.

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