Die multidisziplinäre Québecer Künstlerin Émilie Monnet über das Wiedererlernen der Indigenen Sprache Anishinaabemowin Ein Akt der Liebe und des Widerstands

von Émilie Monnet

Émilie Monnet in ihrer Performance «Okinum» (Foto: Yanick Macdonald)

Im Herbst 2013 habe ich ernsthaft damit begonnen, Anishinaabemowin zu lernen. Damals waren wir eine kleine Gruppe von Frauen mit Anishinaabe Algonkin-Wurzeln, die alle in Montreal lebten. Wir waren von dem Wunsch beseelt, die Sprache sprechen zu können, und hatten mit Véronique Thusky, einer Lehrerin aus Lac Barrière, eine Anishinaabemowin-Lerngruppe gegründet. Wir trafen uns einmal die Woche, immer zuhause bei der ein oder anderen am Esszimmertisch und teilten uns dabei Tee und etwas zu essen.

Im Laufe der Unterrichtsstunden mache ich mich mit den musikalischen und extrem außergewöhnlichen Klängen des Anishinaabemowin vertraut. Ich genieße es, wie sich meine Zunge im Mund bewegt, wie sie gegen den unteren Gaumen drückt, um die Vokale zu verlängern, wie und wo sie Silben besonders betont, wie sich die Sprache in meinem Inneren anfühlt. Ich mag besonders die Bewegung der Stimme von innen heraus, wie anders ihr Weg durch diesen Resonanzraum meines Körpers ist. Ich lerne, Sätze zu bilden, und höre den Menschen aufmerksamer beim Sprechen zu. Manchmal habe ich das Gefühl, sie beim Sprechen singen zu hören.

Ich verstehe, warum so oft über die innere Verbindung zwischen den Indigenen Sprachen und dem Land gesprochen wird. Wenn ich jemanden Anishinaabemowin sprechen höre, höre ich tatsächlich die Klänge des Bodens: den vorüberfließenden Fluss, die Geräusche der Vögel, der Tiere von hier. Zum Beispiel sagt man ôhômisî für Eule und asiginaak für Rabe. In beiden Fällen höre ich den spezifischen Gesang dieser Tiere in den Klängen der Wörter, mit denen sie benannt werden. Als wollte die Zunge ihre Sprache nachahmen oder zumindest die Möglichkeit schaffen, miteinander zu kommunizieren, falls nötig. Anishinaabemowin ist hier in diesem Gebiet entstanden, die Sprache wurde hier entworfen und entwickelt. Ich bin überzeugt, dass das Sprechen einer oder mehrerer Indigener Sprachen zu einem besseren Verständnis für das Gebiet führt, in dem wir uns befinden, und dadurch unsere Verbindung zu ihm vertieft. Je mehr neue Wörter ich lerne, desto mehr bewundere ich die Tiefe und die Weisheit, die im Herzen des Anishinaabemowin verwoben sind. Es ist eine reiche, komplexe Sprache, die eine besondere Weltsicht vermittelt. Viele Worte verweisen auf Konzepte, für die es weder im Französischen noch im Englischen eine Entsprechung gibt und man bräuchte einen ganzen Satz, um zu versuchen, ihre Bedeutung zu übersetzen. Mir wird klar, dass wir durch das Erlernen der Sprache beginnen, unseren Platz im Universum und in der Welt um uns herum besser zu begreifen. Sie gibt unserem Gefühl der Verbundenheit Nahrung. Das sind wunderbare Hinweise darauf, wie wir in einer guten Beziehung zueinander leben können.

Émilie Monnet in ihrer Performance «Okinum» (Foto: Yanick Macdonald)

Es überrascht mich nicht, dass eine der Taktiken, um «den Indianer im Kind zu töten», das massive Verbot der Sprachen Indigener Menschen war. Denn so sorgt man dafür, dass die Sprache nicht mehr von Generation zu Generation weitergegeben wird, man durchtrennt eine Verbindung. Man entwurzelt uns. Man koppelt uns von unserer Identität ab, aber auch von unserer Verantwortung gegenüber dem Boden, der Erde, den kommenden Generationen und dem Leben. Und so fällt es leichter, den Boden und seine Ressourcen auszubeuten.

Je mehr Sätze ich zu bilden lerne, desto mehr werde ich damit konfrontiert, dass es nicht einfach ist, Anishinaabemowin zu lernen. Denn in Montreal gibt es kaum Gelegenheiten, es zu praktizieren. Man muss von Menschen umgeben sein, die die Sprache fließend sprechen, und das ist hier nicht üblich, oder man muss wegziehen, und auch da ist es nicht einfach, denn nicht in allen Anishinaabeg-Gemeinden ist die Sprache täglich im Alltag präsent. Außerdem stelle ich fest, dass mein Gehirn nach westlichem Muster geprägt ist: Ich hätte am liebsten einen Sprachkurs, in dem mir die Grammatik linear erklärt wird, ein Lehrbuch, in dem ich die Wörter auf dem Papier sehen kann. Anishinaabemowin ist eine mündliche Sprache und ich habe Schwierigkeiten, mir alles nur durch Nachsprechen zu merken. Meinem Gehirn fällt es schwerer, Informationen so zu speichern.

Manchmal empfinde ich eine große Wut, wenn ich daran denke, dass man uns unsere Sprachen entrissen hat. Ich bin auch traurig, denn wenn ich lerne, Anishinaabemowin zu sprechen, erkenne ich das gewaltige Ausmaß einer Welt, die mir nicht vermittelt wurde. Ich verstehe, dass das, was ich in mir trage, die Person, die ich bin, in direktem Zusammenhang mit den Entscheidungen meiner Vorfahren steht. Es ist auch eine Folge der bis heute andauernden Ausrottungs- und Assimilierungspolitik.

Émilie Monnet in ihrer Performance «Okinum» (Foto: Yanick Macdonald)

Ich bin mir bewusst, dass Sprachen lebendig sind und sich an die Welt, in der wir leben, anpassen müssen, die sich ihrerseits ständig verändert. Aber ohne Ressourcen und konkrete Maßnahmen, die gewährleisten, dass sie gelehrt und weitergegeben werden, werden viele der Indigenen Sprachen aussterben. Es gibt in Kanada Programme und politische Maßnahmen zum Schutz der französischen Sprache, und ich träume von dem Tag, an dem ähnliche Bedingungen für den Schutz unserer jahrtausendealten Sprachen geschaffen werden.

Véronique erklärte mir kürzlich, dass man vor allem den Geist des Anishinaabemowin verstehen muss, um es zu sprechen. Es ist eine lebendige, beseelte Sprache. Auch sehr beschreibend und bildhaft. Eine Sprache, die hauptsächlich aus Verben besteht und daher hauptsächlich Handlungen beschreibt. In gewisser Weise ist Anishinaabemowin in meinen Augen eine filmische Sprache: Man sieht die Bilder an sich vorüberziehen wie in einem Film. Kein Wunder, dass es heißt, Indigene Sprachen seien auch die Sprachen des Traums. Denn wenn man in ihnen träumt, sind die Bilder detaillierter, die Gefühle leidenschaftlicher und manchmal gelingt es einem sogar, andere Sinne wie den Tast- und Geruchssinn einzubeziehen.

Anishinaabemowin wiederzuerlernen wird zu einer Möglichkeit, mir wieder Macht anzueignen, die Verbindung zu meiner Familie und Kultur zu nähren. Es weckt etwas Wichtiges in meinem Innersten. Wie das Gefühl, eine Erinnerung zu aktivieren. Oder ein Feuer neu zu entfachen. Es ist ein Akt der Liebe und des Widerstands zugleich. Ich lerne also weiter und setze meine Kurse mit Véronique fort. Auf meinem Handy habe ich drei verschiedene Sprachlern-Apps, und ich habe mir ein Lernprogramm bei Amazon gekauft.

Aber der wichtigste Weg zur Wiederaneignung der Muttersprache meines Großvaters ist meine künstlerische Praxis.

 

Der Text erschien ursprünglich im Magazin «3900» des Montrealer Theaters Centre du Théâtre d’Aujourd’hui.

Aus dem Französischen von Frank Weigand

Émilie Monnet (Foto: Christian Blais)

Émilie Monnet ist Schauspielerin, Performerin, Klang- und Videokünstlerin. Ihre Mutter entstammt der Indigenen Nation der Anishinaabeg, ihr Vater ist Bretone. Sie lebt in Montreal und in der Québecer Region Outaouais.  2011 gründete sie die Produktionsplattform Onishka, um Indigene Künstler*innen unterschiedlicher Disziplinen miteinander zu vernetzen. In ihrer Arbeit bevorzugt sie kollaborative und mehrsprachige Prozesse und beschäftigt sich mit Themen wie Erinnerung, Geschichte und Transformation. Bis zur Spielzeit 2024/25 ist Émilie Monnet Artist in Residence am Theater Espace GO in Montreal. 2022 erschien ihr Text «Marguerite: das Feuer» im 23. Band der Anthologie SCÈNE.

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