Scène 23

VERANTWORTUNG UND WEITERLEBEN

Dies ist der zehnte Band der Reihe «Scène», den wir, Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand, gemeinsam herausgeben. Als Zusammenarbeit zwischen einer franko-syrischen Übersetzerin und Regisseurin, die sowohl im deutsch- als auch im französischsprachigen Theatersystem tätig ist, und einem weißen deutschen Übersetzer und Kulturjournalisten, war das «wir», das wir seit nunmehr elf Jahren in unseren Vorworten formulieren, immer das Ergebnis langwieriger Diskussionen und Verhandlungen. Gerade die Tatsache, dass beim verantwortungsbewussten «Export» französischsprachiger Theatertexte in einen deutschsprachigen Stadttheaterkontext – und vor allem in einen darüberstehenden gesellschaftlichen Kontext, eine beinahe unüberschaubare Fülle schwieriger Entscheidungen zu treffen ist, macht diese Tätigkeit für uns nach wie vor zu einer faszinierenden Herausforderung.

Hinzu kommt, dass sich die institutionelle und programmatische Ausrichtung von «Scène» in den letzten Jahren entscheidend verändert hat. Während die Reihe zunächst ein rein französisches institutionelles Projekt war, das alljährlich vier französische Theaterstücke und eines aus dem frankophonen Raum in deutscher Übersetzung präsentierte, wird die Publikation seit 2017 gemeinsam von Partnerinstitutionen aus Frankreich, der Schweiz, Belgien und Québec getragen. Diese Veränderung der Förderkonfiguration führte zu einer entscheidenden Erweiterung der Perspektive und einer Öffnung des Blicks auf den frankophonen Raum. In Absprache mit unseren Partner:innen versammelt dieser Band erstmals neben Autor:innen, die qua Nationalität oder Wohnort Frankreich, Belgien, der Schweiz oder Québec zugeordnet werden können, auch vier Künstler:innen aus Haiti, Kamerun, Ruanda und dem Libanon. Für das institutionelle Vertrauen und die Möglichkeit, die Perspektive nun um wichtige Stimmen zu erweitern, möchten wir uns herzlich bedanken.

Ebenso wie die institutionelle Ausrichtung hat sich auch unser herausgeberischer Ansatz im Lauf der Jahre verändert. Hatten wir mit dem Band Scène 14 die Nachfolge unserer Vorgängerin Barbara Engelhardt angetreten, um ganz bewusst auf die Bedürfnisse des deutschsprachigen Stadttheatersystems einzugehen und Texte zu versammeln, die für dieses «formal interessant» sein könnten, wie wir damals schrieben, gehen wir heute den umgekehrten Weg. Anstatt in der französischsprachigen Produktion nach Texten zu suchen, die sich leicht in eine spezifisch deutschsprachige Art, «Theater zu machen», integrieren lassen, wollen wir Stücke anbieten, die das Stadttheater formal, inhaltlich und besetzungstechnisch herausfordern und womöglich zu seiner Entwicklung zu einer selbstkritischen, hierarchieärmeren und zugänglicheren Institution beitragen.

Vielstimmigkeit und das bewusste Ertragen von Komplexität und Widersprüchen waren unser Hauptkriterium bei der erklärt subjektiven Auswahl der vorliegenden Stücke. Die Recherche erfolgte sowohl mit institutioneller Unterstützung als auch durch unsere persönlichen Netzwerke, durch Freundschaften und Arbeitsbeziehungen auf vier Kontinenten. Herausgekommen ist dabei ein Buch mit Theatertexten, die innerhalb der letzten 15 Jahre weitgehend aus einer außereuropäischen Perspektive und zum Teil auch für ein außereuropäisches Theaterpublikum verfasst wurden. Dass in diesem Kontext die vielschichtige koloniale Vergangenheit eine omnipräsente Rolle spielt, versteht sich von selbst. Doch ist allen hier abgedruckten Stücken gemeinsam, dass sie es nicht bei einer Anklage, einer Benennung von Traumata belassen, sondern es stets um Kontinuität, ein Weiterleben mit dem schwierigen schmerzhaften Erbe geht. Manchmal zornig, manchmal vor allem auf Heilung bedacht, nehmen sie die Beschäftigung mit den schrecklichen Wunden der Vergangenheit vor allem zum Anlass für einen selbstbewussten Blick in die Zukunft.

Trotz aller formalen und perspektivischen Unterschiede ist den Stücken eines gemeinsam: der Wunsch nach Gemeinschaft und Kommunikation, gerade im Bewusstsein geschlagener Wunden und nach wie vor herrschender Machtstrukturen.  Dieses doppelte Bedürfnis hat auch unseren herausgeberischen Umgang mit den Texten und ihren Übersetzungen bestimmt. Zum ersten Mal haben wir bei Scène 23 mit einer weiteren Person in der Funktion einer kritischen Begleitung gearbeitet. Melmun Bajarchuu, Philosophin, Kuratorin und Dramaturgin, zeichnet sich durch ihre machtkritische Theaterpraxis aus und unterstützte uns beim diskriminierungssensiblen Lektorat als kritische Gesprächspartnerin. Diese Zusammenarbeit half uns dabei, Entscheidungen zu treffen, die sowohl den Entstehungskontext der Stücke als auch den aktuellen deutschsprachigen Kontext und gegenwärtige Diskussionen einbeziehen.

Kritische Diskurse der hiesigen Debatte lassen sich nicht generell auf die verschiedenen historischen und sozio-ökonomischen Kontexte der Gesellschaften übertragen, innerhalb derer die vorliegenden Texte entstanden sind. Für den Umgang mit rassistischen Zuschreibungen und sexistischen und ableistischen Beleidigungen in den Stücken gibt es, zumindest aus unserer Perspektive, kein Patentrezept. Da – wie bereits erwähnt – rassistische Unterdrückungsmechanismen in der Tat die Grundlage der dramatischen Situation der meisten Texte bilden, wäre es wenig produktiv gewesen, diese Stücke in der Übersetzung zu entschärfen. Generell haben wir den nicht einfachen Spagat versucht, einerseits das theatrale Konfliktpotenzial intakt zu lassen, andererseits aber auch mit unserem Publikum genauso respektvoll umzugehen wie mit den Texten und ihren Autor:innen.

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