Ein Gespräch mit dem Autorinnen- und Künstlerinnenduo Marie-Ève Milot und Marie-Claude St-Laurent Für ein feministisches Theater, das über die Dystopie siegt
Im kommenden Herbst erscheint in der Anthologie SCÈNE der Text «Clandestines», verfasst von Marie-Ève Milot und Marie-Claude St-Laurent, in der deutschen Übersetzung («Illegal») von Sonja Finck und Frank Weigand. In dem Stück entwerfen die beiden Autorinnen die Dystopie eines Kanada, in dem Abtreibungen für illegal erklärt wurden. Am 24. Mai 2022, während sie den Text gerade zu Ende schrieben, wurde in den USA das Urteil Roe v. Wade aufgehoben. Von diesem Zeitpunkt an stand es allen fünfzig Bundesstaaten frei, das Recht auf Abtreibung einzuschränken oder zu verbieten. Dieses Recht war seit 1973 landesweit gewährt worden. Im Januar 2023 wurde «Clandestines» am Centre du Théâtre d’aujourd’hui in Montreal uraufgeführt. Mit Alessa Haug sprachen die beiden Autorinnen über ihre Freundschaft, ihren Schreibprozess, die Angreifbarkeit des Rechts auf Abtreibung und die Notwendigkeit eines feministischen Theaters.
Alessa Haug: Ihr arbeitet bereits seit mehreren Jahren an zahlreichen gemeinsamen Projekten. Nachdem ihr 2018 «Chienne(s)», 2019 «Guérilla de l’ordinaire» und 2022 «Sappho» geschrieben habt, habt ihr euch erneut zusammengetan, um gemeinsam die Dystopie «Clandestines» zu verfassen, die 2023 veröffentlicht und uraufgeführt wurde. All diese Stücke konntet ihr dank eurer feministischen Theaterkompagnie, dem Théâtre de l’Affamée, aufführen, die ihr 2011 gegründet habt und seitdem gemeinsam leitet. Für manche Arbeiten habt ihr mit Marie-Claude Garneau zusammengearbeitet, einer Doktorandin der Literaturwissenschaft an der Universität Ottawa, die sich in ihrer Forschung mit feministischer Dramatik befasst. Eine davon war die Konferenz-Performance mit dem Titel «Femmes, théâtre et société : investir le politique pour une transmission féministe» («Frauen, Theater und Gesellschaft: In das das Politische eingreifen für eine feministische Weitergabe»), die 2013 entstand und mit der ihr zwei Jahre lang durch Kanada getourt seid. Warum schreibt ihr gemeinsam Theater und warum insbesondere über feministische Themen? Seht ihr dies als eine militante feministische Aktion?
Marie-Claude St-Laurent: Die Zusammenarbeit mit Marie-Ève findet ihren Ursprung in einer sehr großen Freundschaft. Wir haben das Glück, uns schon in der Schule kennengelernt zu haben. Wir sind vor allem enge Freundinnen. Es ist sowohl eine große persönliche Freundschaft, als auch eine große künstlerische Freundschaft, denn wir haben schnell festgestellt, dass wir künstlerisch zusammenpassen. Wir haben ähnliche Sensibilitäten. Im Laufe der Zeit hat sich unsere Partnerschaft verfestigt, weil wir sehr komplementäre Stärken und Schwächen haben. So hat unsere künstlerische Begegnung begonnen.
Marie-Ève Milot: Bevor du fortfährst, möchte ich in Bezug auf die militante Geste in unserer künstlerischen und freundschaftlichen Beziehung hinzufügen: Wir haben unser feministisches Erwachen gemeinsam erlebt. Wir haben angefangen, gemeinsam zu schreiben, ohne das Wort «Feminismus» oder «Aktivismus» zu kennen oder benutzen zu können. Es war bereits ein Teil von uns, aber wir hatten die sprachlichen Werkzeuge nicht nicht, die es uns ermöglicht hätten, uns besser zu definieren und zu etwas zu gehören. Dieses feministische Erwachen, das wir gemeinsam erlebt haben und das viele unserer frühen Werke geprägt hat, ist ein sehr wichtiges Element unserer Begegnung.
Marie-Claude St-Laurent: Ich erinnere immer gerne daran, dass wir ganz zu Beginn unserer Zusammenarbeit das Etikett «feministisch» aus Unwissenheit und Vorurteilen gegenüber diesem Wort ablehnten. Dann aber, mit der Konferenz-Performance im Jahr 2013 – die ein echter Kippmoment war – kamen wir zum ersten Mal mit feministischen Theorien in Berührung. Das war wirklich der Auslöser für unser Erwachen. Von diesem Moment an wurde es zu einem bewussten militanten Akt und einer Entscheidung, durch das Theater politisch aktiv zu werden und somit feministisches Theater zu machen.
Marie-Ève Milot: Und warum schreiben wir zu zweit? Weil es einfach genial ist. Es ist ein seltener Glücksgriff, eine Person zu haben, mit der man das machen kann. Mit Marie-Claude ist es wirklich ein Schreiben mit vier Händen. Wir können zu zweit konstruieren und zwar in einer tiefen Freundschaft , die es uns ermöglicht, uns in der Veräußerung dessen, was wir tief in uns tragen, zu finden, sei es dunkel oder hell. Es ist wirklich wertvoll, ein unmittelbares Feedback zu dem zu bekommen, was man tut, und im direkten Dialog zu sein. Marie-Claude und ich sind auch Interpretinnen, das bedeutet, dass wir unser gemeinsames Schreiben performen. Auch das ist wertvoll: sofort zu hören, wie die Worte oder ein Impuls klingen. Das ist schön, denn man sieht die Figuren im Körper der anderen zum Leben erwachen. Das kann sehr anregend sein.
Marie-Claude St-Laurent: Und es gibt etwas Kreisförmiges in unserer Arbeit. Heute haben wir eine stärker feministische Perspektive auf diese Arbeitsweise, denn in unserer Art, gemeinsam zu schreiben, schreiben wir nicht getrennt, auch wenn wir manchmal getrennt schreiben. Was ich damit sagen will, ist, dass die Arbeit ganz stark zirkuliert. Wir haben absolutes Vertrauen zueinander, sodass wir, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen, direkt die Arbeit der anderen überarbeiten können. Das geht so weit, dass wir manchmal nicht mehr wissen, welche von uns den ersten Entwurf einer Szene geschrieben hat. So etwas kommt in der Schreibarbeit nur selten vor. Jede von uns arbeitet viel mit anderen Personen, in anderen Teams, aber diese Zirkulation, dieses Vertrauen und diese Hingabe an die Arbeit und an den Akt des Schreibens selbst, das ist extrem selten und wertvoll.
Im Zusammenhang mit dieser Zirkulation zwischen euch beiden und dem Vertrauen, das ihr zueinander habt, habt ihr auch mit anderen Leuten gearbeitet, nämlich indem ihr zahlreiche Recherchen mit Expert*innen zum Thema Abtreibung und insbesondere zur Geschichte der Abtreibung in Kanada durchgeführt habt. Könnt ihr mir mehr über diese jahrelange Forschungsarbeit und Zusammenarbeit erzählen? Habt ihr Dinge erfahren, die euch überrascht oder schockiert haben?
Marie-Ève Milot: Unsere große Bibel ist «La bataille de l’avortement. Chroniques québécoises» («Den Kampf um Abtreibung. Kolumnen aus Quebec») von Louise Desmarais, die unsere Geschichte hier in Quebec sehr ausführlich beschreibt. Es ist eine wenig bekannte Geschichte, und da wir die Gebiete der Dystopie erforschen und uns eine Dystopie ausdenken wollten, mussten wir die Vergangenheit und die Geschichte sehr gut kennen. Schließlich stellten wir fest, dass die Dystopie bereits in der Vergangenheit existierte. Die Projektion einer Vergangenheit in eine Zukunft machte die Fiktion, die wir auf die Beine stellen wollten, geradezu dystopisch. Das ist interessant und erschreckend zugleich. Da es bereits vorgekommen war, wurde die Möglichkeit, dass es wieder passieren könnte, sehr wahrscheinlich.
Marie-Claude St-Laurent: Besonders angesichts der Ereignisse in den USA nur wenige Monate vor unserer Premiere, bei denen wir live miterleben konnten, wie die Rechte an den Körpern von Menschen, die Gebärmütter haben, stark eingeschränkt wurden. Dieser Rückschlag zeigt, wie angreifbar Rechte sind.
Marie-Ève Milot: Wir waren übrigens gerade dabei, «Clandestines» in einem Café in New York zu Ende zu schreiben, als wir von der Aufhebung des Urteils Roe v. Wade erfuhren. Wir befanden uns an einem öffentlichen Ort, alle Leute bekamen die Nachricht gleichzeitig auf ihre Handys und plötzlich war unser Stück keine Dystopie mehr, zumindest an dem Ort, an dem wir uns befanden.
Marie-Claude St-Laurent: In deiner Frage hast du auch gefragt: «Was hat euch überrascht?», und ich möchte dir aus einer persönlicheren Perspektive antworten. Während wir das Stück schrieben, gab es einige Dinge, die mich überraschten, insbesondere die Tatsache, dass jedes Mal, wenn wir in unserem Umfeld erwähnten, dass wir an einem Stück arbeiteten, das vom Recht auf Abtreibung handelte, dies Aussagen von Menschen provozierte, die illegale Abtreibungen erlebt hatten.
Menschen in unserem Umfeld, von denen wir nicht einmal wussten, dass sie illegale Abtreibungen erlebt hatten, vertrauten uns diese Geschichten an. Es waren ältere Frauen in unseren Familien, die über ihre Erfahrungen berichteten. Oder, wenn sie nicht von persönlichen Erfahrungen berichteten, sagten sie: «Ich kenne jemanden, der oder die das erlebt hat» und «Ich habe jemanden begleitet». Ich konnte es nicht glauben, dass uns einfach durch das Ansprechen des Themas etwas anvertraut wurde. So wurde mir klar, wie sehr es uns betraf und wie nah es uns ist.
Marie-Ève und ich sind 40 Jahre alt, wir sind in unseren Familien die ersten Frauen, die Zugang zu entkriminalisierter Abtreibung haben. Unsere Mütterhatten nicht die gleichen Rechte wie wir, als sie mit uns schwanger waren. Ich fand das unglaublich, wie das zu etwas wurde, das uns nahe ging, nur weil wir in unserem Umfeld darüber sprachen.
Marie-Ève Milot: Durch diese Berichte wurde auch klar, dass die Menschen, die illegale Abtreibungen erlebt hatten, eine Art Befreiung empfanden und, dass sie sich dadurch beruhigt fühlten, dass Frauen in unserem Alter sich um dieses Thema kümmerten und darüber wachten. Denn, wenn man es von innen erlebt hat, ist es etwas anderes, als es in einer Fiktion geschehen zu sehen.
Wir haben beide verstanden, dass das, was wir schrieben, nicht nur eine Dystopie ist, sondern eine Möglichkeit. Ich fühlte, dass es für diese Menschen etwas Beruhigendes ist, zu wissen, dass es Menschen gibt, die dafür sorgen, dass dieses Thema ein aktuelles Thema wird, etwas, das sie erleichtert und das diesen erschreckenden Erfahrungen einen Wert verleiht. Solche Dinge in der Illegalität zu tun, ist erschreckend. So haben wir abgesehen von den Zeugenaussagen auch eine Form von Anerkennung, von Dankbarkeit bekommen.
Marie-Claude St-Laurent: Was mich auch noch überrascht hat, war, dass, wenn wir mit Kolleg*innen sprachen, die auch im Bereich der darstellenden Künste arbeiten – einem Bereich, der sich selbst als sehr offen, sehr Pro-Choice bezeichnet, als ob es selbstverständlich wäre, für das freie Recht auf Abtreibung zu sein – und wir ihnen erzählten, dass wir uns gerade mit dem Thema Recht auf Abtreibung beschäftigten, dass deutlich wurde, sobald wir ein bisschen tiefer bohrten, dass meine Gesprächspartner*innen unbewusst Anti-Abtreibungsargumente vorbrachten und Vorurteile gegenüber Abtreibung hatten.
All das war Teil dessen, was uns an diesem Projekt interessierte, nämlich die Angreifbarkeit dieses Rechts zu thematisieren, das auch in uns selber steckt und nicht nur außerhalb von uns. Daher ist es wichtig, darüber zu sprechen, um zu verstehen, was auf dem Spiel steht, um die Strategien zu erkennen, die für die Einschränkung des Rechts auf Abtreibung eingesetzt werden, um darauf reagieren und sie dekonstruieren zu können.
Hattet ihr von Anfang an den Wunsch, eine Dystopie zu schreiben?
Marie-Ève Milot: Ja, von Anfang an. Für uns war es das Genre, das diese Erkundung und die Verbindung einer Vergangenheit mit einer nahen Zukunft ermöglichte.
Alessa Haug: Eignet sich das Genre der Dystopie gut für diese Frage nach der Angreifbarkeit des Rechts auf Abtreibung und andere feministische Themen?
Marie-Ève Milot: Ja, das finde ich schon. Besonders im Rahmen dieses Schreibprozesses gab es für uns keinen Zweifel daran, dass es das perfekte Genre ist. Wir konnten ein komplettes politisches System erschaffen. Die Dystopie ermöglicht es, ein Wertesystem, ein Glaubenssystem und ein ganzes politisches System anzubilden. Für uns war es ideal, um über das Recht auf Abtreibung zu sprechen. Es ermöglichte uns, sowohl aus Systemen der Vergangenheit zu schöpfen, aus Dingen, die bereits existiert haben, und Dingen, die jetzt gerade existieren, als auch ein politisches System neu zu erfinden. Es ist ein perfektes Genre.
Marie-Claude St-Laurent: Und es ist auch ein Genre, das wir noch nie zuvor erforscht hatten. Es hat uns dramaturgisch sehr gereizt, mit Spannung und Angst zu arbeiten. Wir hatten wirklich Lust, auch das auszuprobieren.
Marie-Ève Milot: Aber was uns neben der Idee der Dystopie am meisten gefallen hat, war, dass wir die Gemeinschaften von Menschen, Frauen, die das alles überleben, in den Vordergrund stellen konnten. Es sind diese Gemeinschaften von Aktivist*innen, die sich organisieren, um auf andere Personen aufzupassen. Das ist unsere feministische Utopie durch die Dystopie. Das ist das eigentliche Thema, finde ich.
Marie-Claude St-Laurent: Ich finde es interessant, das Wort «feministische Utopie» zu erwähnen. Was wir geschrieben haben, obwohl die Geschichte fiktiv ist – ich wage es zu sagen –, ist wahr, in dem Sinne, dass alles was im Stück passiert und all die Erlebnisberichte, die wir erhalten haben, wahr sind. Diese Solidarität der Frauen existiert und sie existiert überall. Bei unseren Recherchen sind wir z. B. auf «Women on Waves» gestoßen, eine internationale Organisation, die Frauen beim Zugang zu Abtreibungen auf Schiffen hilft.
Marie-Ève Milot: Das sind Schiffe, die sich in internationalen Wassern befinden, um außerhalb der nationalen Gesetze zu stehen.
Marie-Claude St-Laurent: Diese Frauen- und Solidaritätsnetzwerke existieren und je restriktiver die Gesetze sind, desto mehr verstecken sie sich. Aber diese Netzwerke können auch sichtbar sein, sogar auf internationaler Ebene, wie z. B. bei dieser Organisation. Das gibt uns natürlich viel Hoffnung.
An welches Publikum richtet sich das Stück?
Marie-Ève Milot: Das Stück richtet sich an alle, weil es um Menschenrechte geht und um die Frage der Angst, die in unsere Systeme eindringt. Das Thema des Stückes ist Abtreibung, aber es ist ein austauschbares Thema, weil es Angst erzeugt und sich daher an alle richtet. Es geht um Freiheit und Menschenwürde. Letztendlich ist es egal, was man über Abtreibung denkt; meiner Meinung nach, soll man aus diesem Stück, dieser Reflexion, dieser Dystopie, gemeinsam lernen, wie man sich gegenseitig schützen kann.
Euer Stück wird ins Deutsche übersetzt und damit auch für deutsche Theater zugänglich gemacht. Über feministische Themen zu schreiben und sie zu übersetzen, erfordert eine gewisse Reflexion, eine Selbstreflexion über viele Fragen. Erwartet ihr etwas von der deutschen Übersetzung?
Marie-Claude St-Laurent: Nein, ich erwarte nichts Bestimmtes von der Übersetzung. Es ist das erste Mal, dass einer unserer Texte in eine Sprache übersetzt wird, die wir nicht verstehen. Ich finde es schwer, sich von dem Kontext, in dem ein Stück geschrieben wurde, zu distanzieren. Besonders im Fall dieses Stückes, weil wir rechtliche Fragen behandeln, die zum kanadischen Recht gehören. Wir haben keine bestimmten Erwartungen, denke ich, sondern vor allem Fragen, z. B. wie das Stück verstanden, aufgenommen und rezipiert werden kann, denn ich weiß, dass das Recht auf Abtreibung in Deutschland restriktiver ist als in Kanada. Wir können nur schwerlich wissen, wie es bei euch wahrgenommen werden und nachhallen kann.
Marie-Ève Milot: Ich erwarte, dass es einen Dialog geben wird und dass Fragen gestellt werden. Ich hoffe natürlich, dass die Personen sich selbst hinterfragen können, denn man ist nie vor seiner eigenen Voreingenommenheit sicher. Die Verwendung von bestimmten Wörtern war für uns während des Schreibprozesses wichtig. Wir mussten fast darum kämpfen, die richtigen Wörter zu verwenden – vorher sprachen wir von unserem Umfeld, das bestimmte Ausdrücke benutzte, die von Anti-Choice-Gruppen verwendet werden und die sich in die Privatsphäre der Menschen einschleichen. Z. B. ist der Begriff «Spätabtreibung» sehr abwertend.
Ich freue mich darauf, diese Art von Entsprechungen in der deutschen Alltagssprache zu sehen, um zu sehen, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede es gibt. Ja, ich hoffe, dass unser Stück zu einem Dialog und zu Fragen führt. Ich glaube, dass Marie-Claude und ich mit der größtmöglichen Sorgfalt künstlerisch arbeiten. Während der jahrelangen Recherchen haben viele Expertinnen und Experten um uns herum, seien es Hebammen, Ärzt*innen oder eine Expertin der Anti-Abtreibungsbewegung, an diesem Projekt mitgearbeitet.
Ich hoffe, dass die Übersetzung dieselbe Sorgfalt aufwenden wird. Es handelt sich also um einen Schreibprozess, der durch all die Mitarbeiterinnen, die uns herausgefordert, korrigiert und den Text gelesen haben, wirklich präzisiert worden ist.
Auf Seite 104 sagt die Figur Louise folgenden Satz: «Drei Leute, die keine Ahnung von mir haben, entscheiden über meine Zukunft, über meinen Körper, über mein Leben, drei Leute haben mehr Macht über mich als ich selbst.» Glaubt ihr, dass im derzeitigen politischen Klima die Arbeit von Autor*innen zu einem Umdenken führen kann, und wünscht ihr euch, dass «Clandestines» diesen Wandel herbeiführt?
Marie-Ève Milot: Diese Replik bezieht sich auf einen Teil der Geschichte hier in Quebec, wo es Komitees gab, bei denen Personen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollten, das Recht auf Zugang zu einer Abtreibung beantragen mussten. Die Antwort auf deine Frage lautet also: Ja. Ich selbst habe in meinem Leben eine Abtreibung vorgenommen. Ich bin stolz darauf, dass ich Zugang dazu hatte, und ich kann mir nicht vorstellen, diese Freiheit nicht gehabt zu haben.
Ich wünsche das jedem Menschen, dass er für sich selbst, für sein Leben, für seinen Körper entscheiden kann. Die Antwort lautet also: Ja, ich glaube an die Macht des Theaters. Ich weiß nicht, ob «Clandestines» diese Wirkung hatte oder haben wird, Bewusstsein zu wecken oder Dinge zu verändern, aber ich hoffe, dass es so ist.
Marie-Claude St-Laurent: Ich bin ganz deiner Meinung, das ist etwas, auf das man nur hoffen kann. Man können uns nicht anmaßen, zu glauben, dass das alles verändern kann, aber natürlich hoffen wir das. Was wir uns auch wünschen, ist, dass man offen darüber sprechen kann. Das Theater ist ein Raum des Dialogs. Wenn es einen offenen Dialog ermöglicht, es den Menschen ermöglicht, darüber zu diskutieren, Tabus zu brechen, ist das schon ein kleiner Sieg.
Marie-Ève Milot: Vor allem, weil trotz aller immer Abtreibungen geben wird. Wenn das Recht auf Abtreibung mit allen möglichen Bestimmungen einzuschränkt wird, führt ganz einfach in die Illegalität, zu Todesfällen, zu Räumen, die für Frauen gefährlicher sind. Aus diesem Grund heißt unser Stück «Clandestines», «Illegal».
Marie-Claude St-Laurent: Das ist ein Satz, den wir der Figur Louise in dem Stück in den Mund gelegt haben, und alle Fachleute, die wir zu dem Thema befragt haben, haben uns gesagt: «Wenn Abtreibung eingeschränkt wird, gibt es nicht weniger Abtreibungen, sie werden nur unter sehr schlechten Bedingungen durchgeführt. Ganz egal, ob Abtreibung legal oder illegal ist, die Zahl der Abtreibungen bleibt ungefähr gleich, aber die Bedingungen, unter denen Abtreibungen durchgeführt werden, ändern sich auf tragische Weise.»
Marie-Ève Milot: Und dabei sind noch nicht einmal alle Auswirkungen auf die psychische Gesundheit berücksichtigt. Das, worüber wir in dem Stück sprechen, ist eine Art Maßeinheit, aber die Folgen sind unendlich.
Vielen Dank euch beiden für das Gespräch.
(aus dem Französischen von Alessa Haug)
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* Hinweis: Dieser Artikel ist das Transkript eines Interviews, das im Juni 2024 geführt wurde.
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Marie-Ève Milot ist Schauspielerin, Regisseurin, Autorin und Herausgeberin von Theaterstücken. Als Darstellerin hat sie in über zwanzig Theaterproduktionen mitgewirkt und zahlreiche Rollen in verschiedenen Fernsehserien gespielt. Als künstlerische Co-Direktorin des Théâtre de l’Affamée zusammen mit Marie-Claude St-Laurent hat sie mehrere Stücke mitgeschrieben, darunter «Clandestines», «Guérilla de l’ordinaire» (beide Finalistinnen für den Preis Michel-Tremblay 2023 und 2019), «Sappho», «Chienne(s)» und «Débranchée/unplugged» (Finalistin für den Preis Louise-Lahaye 2017). Sie hat bei den letzten vier Kreationen ihrer Kompanie Regie geführt. Außerdem inszenierte sie «Sissi» (La Licorne, 2019) und «Mama» (Duceppe, 2022), zwei Stücke von Nathalie Doummar, sowie «Chokola» von Phara Thibault (La Licorne, 2023) und «Docteure» von Robert Icke (Duceppe, 2023). Seit 2019 hat sie zusammen mit Marie-Claude Garneau und Marie-Claude St-Laurent die literarische Leitung von La Nef übernommen, eine feministische Theaterreihe der Éditions du remue-ménage. Sie arbeitete an der von den Forscherinnen des RéQEF durchgeführten Studie über die Stellung der Frauen im Theater während des Chantier féministe von ESPACE GO im Jahr 2019 mit und war an der Schaffung des Jovette-Marchessault-Preises beteiligt, der den Beitrag von Künstlerinnen im Theater hervorhebt.
Marie-Claude St-Laurent ist Schauspielerin, Dramaturgin, Drehbuchautorin, literarische Co-Leiterin von La Nef bei den Éditions du remue-ménage und künstlerische Co-Leiterin des Théâtre de l’Affamée, einer Theaterkompagnie mit feministischem Ansatz. Als Schauspielerin in mehr als 15 Theaterproduktionen wurde sie im Fernsehen durch die beliebte Sendung «Vrak la vie» bekannt. Zuletzt gehörte sie zum Cast von «Après le déluge», «Désobéir» und «Audrey est revenue». Sie ist Co-Autorin von neun Stücken mit Marie-Ève Milot, darunter «Clandestines» und «Guérilla de l’ordinaire», beide Finalistinnen des Michel-Tremblay-Preises.
Alessa Haug, 2002 in Colmar geboren und aufgewachsen, absolvierte dort das deutsch-französische Abitur (Abi-Bac). Sie studiert deutsch-französische Literatur- und Kulturstudien im Doppelbachelor zwischen der Sorbonne Nouvelle in Paris und der Freien Universität Berlin. Im Rahmen eines einjährigen deutsch-französischen Volontariats ist sie bis Ende August 2024 als Kulturassistentin im Bureau du théâtre et de la danse/Institut français d’Allemagne tätig.
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