Mathieu Bertholet über seine Pläne für das Zürcher Theater Neumarkt «Jeder vierte Schweizer ist kein Schweizer»
Seit 2015 leitet der zweisprachige Theatermann Mathieu Bertholet das Theater Poche/GVE in Genf und hat das kleine Haus zu einer wichtigen Adresse für zeitgenössische Dramatik gemacht. Nächste Spielzeit wagt er den Sprung über den Röstigraben und tritt die Intendanz des Zürcher Neumarkt an. Über Systemunterschiede zwischen West- und Ostschweiz, Diversität in der eher konservativen Alpenrepublik, Demokratisierungsprozesse im Theater, offizielle und inoffizielle Landessprachen und seine Pläne für Zürich sprach der Autor, Regisseur und Übersetzer mit Frank Weigand.
Frank Weigand: In eineinhalb Jahren, im September 2025, übernimmst du die Intendanz am Theater Neumarkt in Zürich. Damit enden genau 10 Jahre als Leiter des Poche /GVE in Genf, an dem du eine Neuausrichtung versucht hast. Deine Spielplangestaltung war im wesentlichen auf zeitgenössisches Theater von lebenden Autorinnen und Autoren konzentriert. Außerdem hast du versucht, die Idee des Ensembles, einer Truppe fest engagierter Schauspieler*innen, in die Westschweiz zu bringen. Was für eine Bilanz ziehst du nach diesem Experiment ?
Mathieu Bertholet: Wir haben ein System entwickelt, das die bestmögliche Antwort auf alle Einschränkungen war, die es in der Westschweiz gab. Angesichts des Gehaltsniveaus und der Höhe unserer Subventionen mussten wir eine Art von Ensemble erfinden, das anders war als Ensembles in der Deutschweiz oder in Deutschland. Die Leute werden nicht für ein ganzes Jahr angestellt, ihr Vertrag wird sehr genau nach der Anzahl der Produktionen berechnet, an denen sie beteiligt sind, und nach der Dauer der Proben. Er beginnt an dem Tag, an dem sie anfangen, den Text zu lernen, und endet mit der letzten Vorstellung. Wir haben viel Zeit aufgewendet, um das umzusetzen. Wir haben genau nachgerechnet, wieviel Zeit eine Uraufführung in Anspruch nimmt. Wieviel Arbeitszeit, wieviel persönlichen Einsatz. Wieviel Ruhezeit ein Schauspieler zwischen zwei Vorstellungen braucht. All diese Dinge, die in einem Stadttheater vielleicht selbstverständlich sind, weil sie da schon lange so gemacht werden, aber gleichzeitig begreife ich langsam, dass, eben weil sie schon so lange so gemacht werden, diese Dinge nie hinterfragt wurden, und dass das auch ein Problem sein kann.
Ich glaube, wir haben das Maximum dessen erreicht, was für ein Ensemble in einem Westschweizerischen Kontext möglich war. Das ist uns in den Spielzeiten, wo wir auf die Pandemie reagieren mussten, ziemlich gut gelungen. In gewisser Weise hat uns die Pandemie bestätigt. Wir haben bewiesen, dass das Ensemble- und Repertoiresystem das belastbarste System ist. Wir waren die einzigen, die angemessen auf die Prekarität von Künstler*innen und die Frage der Nachhaltigkeit von Beschäftigungsverhältnissen reagiert haben. Das hat uns extrem flexibel gemacht. Wir mussten niemanden entlassen, wir konnten alle Verträge vollständig erfüllen. Wir konnten alle Produktionen machen, die wir geplant hatten.
Was war neben der Pandemie und den strukturellen Herausforderungen die größte Schwierigkeit deiner ersten Intendanz?
Im Poche gab es eine vollkommen übersteigerte Konzentration auf meine Person, weil ich als Revolutionär wahrgenommen wurde, also, natürlich war ich derjenige, der die Transformation getragen hat, aber ich habe nicht alle Entscheidungen getroffen. Alle Außenstehenden haben mich als Diktator wahrgenommen, der alle Entscheidungen traf, obwohl der Spielplan von einem Lesekomitee entwickelt wurde. Dieses Komitee wählte den Großteil der Texte aus, die wir präsentiert haben. Und außerdem gab es ein Kollektiv. Ich habe viel gemeinsam mit unserer assoziierten Künstlerin Manon Krüttli darüber nachgedacht, welche Regisseur*innen wir einladen wollten.
In den letzten Spielzeiten hatten wir sogar ein Komitee zur Auswahl der Schauspieler*innen, das aus sieben Zuschauern und Zuschauerinnen bestand. Fast keine der wirklich wichtigen Spielplanentscheidungen habe ich allein getroffen, aber es gab diese totale Konzentration auf meine Person, die ich als ziemlich negativ erlebt habe. Das ist also etwas, das mich sehr beschäftigt, wie man solche Entscheidungen von Personen abkoppeln kann, wie man nach außen kommuniziert, dass die Entscheidungen gemeinsam getroffen werden, was das verändert, oder wer sie vertritt.
Was möchtest du am Neumarkt verbessern?
Was man am Neumarkt verbessern könnte, wäre die Frage der Partizipation. Am Poche gab es bereits eine große Beteiligung durch das Lesekomitee, aber die Beteiligung blieb auf dieses Komitee beschränkt. Das heißt, nur das Lesekomitee war an den Überlegungen zum Spielplan beteiligt. Das waren eher Leute von außerhalb des Poche, die nur wegen des Lesekomitees kamen, und niemand aus der festen Belegschaft. Am Neumarkt möchte ich diese Momente der Beteiligung, des Nachdenkens über die Spielplangestaltung in den Arbeitsablauf der Leute integrieren, sodass ihre Arbeitszeit reduziert wird, wenn sie sich bei der Spielplangestaltung einbringen. Am Poche haben wir ein festes Team von etwa 15 Personen, Technik und Büro zusammengenommen, plus etwa 10 Schauspieler*innen, also kommen wir auf etwa 20 Angestellte. Am Neumarkt steigt diese Zahl auf 60-70 Mitarbeiter*innen, also werden all diese human ressources-Fragen extrem wichtig. Also frage ich mich, wie man Personalfragen delegieren kann.
Das Poche war meine erste Erfahrung als Intendant, und ich habe gemerkt, dass du dich die Hälfte deiner Zeit nur mit Personalfragen beschäftigst und künstlerische Fragen nur noch 10 % deiner Arbeitszeit ausmachen. Ich würde lieber 50 % meiner Zeit damit verbringen, über das Künstlerische nachzudenken, d. h. auch darüber, wie man ein Theater besser organisieren kann, um Personalfragen am besten zuvorzukommen. Da sein, soviel wie möglich, damit Probleme schnell erkannt und gelöst werden.
Ist das, was du am Neumarkt vorhast, für dich eine Weiterentwicklung der letzten zehn Jahre oder etwas völlig Neues?
Ich würde sagen, es ist das «next level». Ich schaue ja kein Fußball, aber es ist wirklich so, als ob ich von der zweiten Liga in die erste Bundesliga aufgestiegen wäre. Ich nehme einen Teil meines künstlerischen Teams mit, nur dass mein Team im Gegensatz zu anderen Intendanten nicht unbedingt eine Gruppe von Schauspielern und Schauspielerinnen ist, sondern eher die Trainer, eher der ganze Führungsstab drumherum. Ich nehme vor allem Autorinnen und Autoren mit, und bestimmt werde ich auch Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildner mitnehmen, um über die Frage der Nachhaltigkeit von Bühnenbildern nachzudenken.
Ich werde Regisseurinnen und Regisseure mitnehmen und außerdem Assistentinnen, die mit uns am Poche gearbeitet haben, denn viele dieser Assistentinnen sind zweisprachig. Es sind häufig Westschweizerinnen, die in Berlin oder Zürich studiert und auch schon in Zürich gearbeitet haben. Dieses ganze «Trainerteam» möchte ich mitnehmen, nicht so sehr Konzepte eigentlich, eher Menschen.
In Genf hast du Elemente des Stadttheaters nach deutschem Vorbild implementiert. Welche Genfer Elemente nimmst du mit nach Zürich?
In Bezug auf die Dramaturgie werde ich versuchen, die Produktion von der Spielplangestaltung abzugrenzen. Am Poche haben wir die Produktionsdramaturgie stark auf die Assistentinnen ausgelagert. Das heißt, wir haben bewusst Assistentinnen engagiert, die in den meisten Fällen eine Regieausbildung absolviert hatten, die also sowohl einen Regie-Background als auch die Fähigkeit besaßen, Theatertexte genau zu lesen, was in der Produktionsdramaturgie extrem wichtig ist, und einen Großteil dieser Arbeit an diese Personen delegiert.
Diese Assistentinnen übernehmen also einen Teil der festen Dramaturgie-Stellen, als Regieassistenten, die die gesamte Spielzeit begleiten und sich abwechseln, damit klare Verbindungen zwischen den Produktionen entstehen. Ich würde mir viele Verbindungen wünschen, obwohl es sich um Texte handelt, die nichts miteinander zu tun haben. Da wir das Bühnenbild reduzieren und auch viele andere Dinge, werden sich zwangsläufig Verbindungen ergeben. Ich bin auch sehr dafür, jemanden zu haben, der die Entwicklung eines Schauspielers oder einer Schauspielerin im Verlauf einer Spielzeit von Produktion zu Produktion beobachtet, also werden die Assistentinnen diese Entwicklung verfolgen und dafür sorgen, dass sie intelligent verläuft. Bestimmt wird es trotzdem auch noch einen Dramaturgen oder eine Dramaturgin geben, aber mir wäre es lieber, dass ein Autor oder eine Autorin die Rolle der «literarischen Dramaturgie» übernimmt und gleichzeitig die Texte rund um die Produktionen verfasst.
Alle Spielplanfragen sollen von einem Komitee übernommen werden, d.h. es wird sowohl den «Leserat» geben, der für die Textrecherche oder die Themenfindung zuständig ist. Am Poche ging es eindeutig um zeitgenössische Dramatik, zeitgenössische Autorinnen und Autoren. Am Neumarkt können wir da offener sein. Man könnte sich durchaus ein Thema aussuchen und zu diesem Thema einem Autor/einer Autorin einen Stückauftrag erteilen, obwohl ich Stückaufträge auf ein Minimum beschränken möchte, weil ich aus Gründen der Nachhaltigkeit den «Uraufführungs-Wettlauf» vermeiden will. Warum sollte etwas, das in Leipzig super funktioniert hat, nicht auch am Neumarkt möglich sein? Aus diesem Wettlauf auszusteigen, würde meiner Meinung nach viel Ruhe reinbringen. So kann das Lesekomitee auch ältere Texte auswählen und überlegen, welche Themen in Zürich relevant sind.
Und zweitens wird es einen «Ensemble-Rat» geben, bestehend aus den Schauspielerinnen und Schauspielern, den Gastkünstlerinnen und -künstlern, den Leuten aus den Büros und von der Technik, den Zuschauerinnen und Zuschauern, die gemeinsam sowohl die Schauspielerinnen und Schauspieler auswählen, die in der nächsten Spielzeit ins Ensemble kommen, als auch die Regisseurinnen und Regisseure. Also wird ein Großteil der Spielplangestaltung von den Komitees übernommen. Deshalb versuchen wir, auch Autoren und Autorinnen in die verschiedenen «Räte» zu holen.
Ein Aspekt eurer Spielplangestaltung am Poche war es, einem französischsprachigen Publikum eine große Bandbreite deutschsprachiger Dramatik näher zu bringen. War das eine bewusste Entscheidung?
Das Komitee, das wir zusammengestellt haben, konnte mit dieser Art von Dramatik sehr viel anfangen. Ich denke, wir haben wirklich fast alle Aspekte einer bestimmten deutschsprachigen Dramatik abgedeckt, von einer sehr politischen und extrem dekonstruierten Art zu schreiben wie der von Katja Brunner, über eine extrem poetische Sprache wie bei Wolfram Höll, bis hin zu einer konkreten komischen Schreibweise wie bei Rebekka Kricheldorf. Deutschsprachige Dramatik wird viel übersetzt, daher gab es viele Texte zu lesen, eine sehr große Auswahl.
Viele französische oder französischsprachige Texte, die wir gelesen haben, waren eher Versuche, ein wenig eitle, oberflächliche poetische Versuche, und dann wiederum gab es Texte, die nur politisch waren, aber überhaupt keine Form mehr hatten. Die frankophone oder französische Dramatik hat uns weniger begeistert. Wir hatten auch eine Menge kanadischer Dramatik mit einer gewissen Seltsamkeit, die immer großen Spaß macht. Bei den französischen Texten haben wir immerhin französischsprachige Autor*innen in den Vordergrund gestellt, die wir teilweise als erste gespielt haben und die mittlerweile zu Shooting Stars geworden sind, wie Pauline Peyade und Guillaume Poix, die wir in den ersten Spielzeiten präsentiert haben, und vor Kurzem erst Marcos Caramés-Blanco mit «Trigger-Warning». Ich finde, unsere Entscheidungen waren immer extrem durchdacht.
Aber ich würde nicht sagen, dass wir die Autor*innen «bekannt gemacht» haben. Wir haben sie einfach in den Spielplan aufgenommen, denn «bekannt machen» würde ja bedeuten, dass sie dank uns zu riesigen Stars geworden sind, was nicht der Fall ist. Das Poche ist immer noch ein sehr kleiner Ort in einer sehr kleinen Stadt und außerdem völlig abseits der französischen Netzwerke. Da Frankreich total zentralisiert und auf Paris ausgerichtet ist und wir nie den Ehrgeiz hatten, nach Paris zu gehen, haben wir uns selbst ins Abseits gestellt. Wenn du dich zwei drei Mal weigerst, in dem kulturellen Swingerclub mitzuspielen, bist du völlig ab vom Schuss, was am Neumarkt zum Glück nicht der Fall sein wird, weil die Netzwerke völlig anders sind, und das Theater lokaler ist, nämlich direkt für eine Stadt gemacht.
Habt ihr deshalb vor allem französische Autor*innen vorgestellt, die damals in Frankreich noch nicht aufgeführt waren?
All diese Autor*innen habe ich noch während ihrer Ausbildung kennengelernt, das war das Glück an meinem Leben davor, wenn du so willst. Ans Poche habe ich mein Leben davor mitgenommen, das war die ENSATT. An den Neumarkt nehme ich mein Leben davor mit, also das Poche. Wenn du so willst, wird also, so wie meine Intendanz am Poche nur die Fortsetzung der Ko-Leitung des Studiengangs Szenisches Schreiben an der ENSATT mit Enzo Corman war, der Neumarkt die Fortsetzung meiner Arbeit am Poche sein. Das ist ganz normal, man nimmt sein Adressbuch mit, man nimmt seinen Bekanntenkreis mit. Ich werde Guillaume Poix und Pauline Peyrade mit an den Neumarkt nehmen. Ich denke, dass ein Stück wie «Soudain Romy Schneider » von Guillaume Poix durchaus an den Neumarkt passt.
Mein wichtigstes Bedürfnis ist es, die Zürcher mit frankophonen Autoren vertraut zu machen und dann auch mit anderen, und das bedeutet, dass die Übersetzung einen wichtigen Stellenwert bekommt. Mein Plan ist es, den Neumarkt zu dezentrieren, oder im Gegenteil, den Neumarkt wieder ins Zentrum zu rücken. Im Moment ist der Neumarkt ein Theater im Randbereich des deutschsprachigen Raums Österreich-Deutschland-Deutschschweiz, aber wenn man die Perspektive umdreht und sich der Westschweiz und der Frankophonie zuwendet, befindet sich der Neumarkt plötzlich in der Mitte von Europa und nicht mehr nur am Rand des deutschen Sprachraums.
Mit der Intendanz am Neumarkt wirst du den berühmten «Röstigraben» überqueren, was bedeutet, dass Theater von nun an auf Deutsch und nicht mehr auf Französisch stattfinden wird. Was wird sich durch den Sprachwechsel in der Ausrichtung deiner Arbeit ändern?
Historisch gesehen ist der Neumarkt ein Theater, das politisch extrem stark in das Leben der Stadt eingebunden ist. Die Reflexion über Sprachen ist hier anders. Für mich steht die Frage des Übergangs von einer Sprache zur anderen im Mittelpunkt meines Projekts für Zürich. Wir werden in den Landessprachen spielen und uns fragen, was der Begriff «Landessprachen» heute in der Schweiz bedeutet. Es geht darum, hervorzuheben, was die Schweiz so besonders macht, nämlich die Tatsache, dass sie ein wirklich mehrsprachiges Land ist.
Die Schweiz ist das einzige Land in Europa – abgesehen von Belgien ein bisschen -, in dem es zwei Theatersysteme im selben Land gibt, zwei sehr sehr unterschiedliche Arten, Theater zu machen, die aber in dasselbe System von Sozialversicherung und Arbeitsrecht eingebunden sind, und das ist sehr interessant. Es ist nicht wie Frankreich, wo Theater mit dem System der « intermittence » produziert wird, und Deutschland, das ein Stadttheater mit einem anderen Sozialsystem hat – wir haben das gleiche Sozialversicherungssystem, das gleiche Arbeitsrecht, und doch haben wir zwei völlig unterschiedliche Arten, Theater zu machen.
Die Schweiz ist nicht Frankreich, wir haben keine Kolonialvergangenheit im eigentlichen Sinne. Unsere Kolonialvergangenheit ist lediglich eine kapitalistische, das heißt, wir haben keine Leute aus unseren ehemaligen Kolonien in unserem Land. Dafür haben wir eine riesige migrantische community. In den 1950er Jahren waren es die Italiener, in den 1960er und 1970er Jahren die Portugiesen und Spanier, in den 1990er Jahren kamen die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien und jetzt unter anderem Leute aus Syrien. Und ich habe mich gefragt, wie all diese Minderheiten, die unsere Minderheiten sind, die Minderheiten, die die Schweiz ausmachen, repräsentiert werden. Warum werden sie nicht im Theater repräsentiert? Vielleicht, weil unser Denken so stark von dem französischsprachigen und deutschen Bild von Immigration und Postkolonialismus bestimmt werden. Wir haben uns nie die Frage gestellt, wo eigentlich die italienischen Secondos, die portugiesischen Secundos, die spanischen Segundos, die Syrer und die Afghanen auf unseren Theaterbühnen sind. Und diese Frage möchte ich in den Vordergrund stellen.
Ich möchte in unseren offiziellen Landessprachen spielen, aber mich auch fragen, welches unsere inoffiziellen Landessprachen sind, und genau da einen Austausch beginnen und versuchen, Leute aus diesen communities in den «Leserat» zu holen. Vielleicht könnten wir in jeder Spielzeit eine dieser Minderheiten in den Vordergrund stellen, indem wir einen oder zwei Texte oder einen oder zwei Autor*innen vorstellen. In der Schweiz hat jeder Vierte einen Migrationshintergrund, das ist enorm. Jeder vierte Schweizer ist kein Schweizer. Mich interessiert das, weil all diese Menschen sicherlich einen anderen Blick auf die Schweiz haben, eine andere Art und Weise, über die Schweiz zu sprechen. Und mein Ziel ist es, sie an den Neumarkt zu holen.
Vor kurzem habe ich einen alten Text von dir für Théâtre Public gefunden (den wir vor drei Jahren auf Deutsch auf PLATEFORME veröffentlicht haben), in dem du sagst, dass Übersetzen für dich ein Mittel ist, um deinem Intendantenalltag zu entfliehen. Für das Poche hast du viele deutsche und deutschsprachige Texte ins Französische übersetzt. Wirst du auch weiterhin Theater übersetzen?
Ja, es macht mir großen Spaß, zu übersetzen. Wie ich schon viel zu oft gesagt habe: Das ist ein Hobby für mich. Das soll überhaupt nicht heißen, dass ich es auf die leichte Schulter nehme, aber es ist wirklich eine Art Fluchtmöglichkeit und ein kreativer Freiraum, den ich als Intendant nicht unbedingt habe. Wenn ich meinen Ansprüchen an das Französische gerecht werden will, bin ich nur in der Lage, aus dem Deutschen ins Französische zu übersetzen. Aber im Deutschen habe ich nicht diese Genauigkeit und Feinheit einer Muttersprachlerin, also kann ich nicht in die andere Richtung arbeiten. Sehr wahrscheinlich werde ich weiterhin übersetzen, aber nur in eine Richtung. Ich werde nie in der Situation sein, vom Französischen ins Deutsche zu übersetzen. Ich habe das einmal probiert und es war katastrophal. Das geht überhaupt nicht. Dafür müsste ich eine*n Tandempartner*in finden. In einer idealen Welt würden alle nur noch im Tandem arbeiten.
Vielleicht richten wir auch am Neumarkt Tandem ein, auf jeden Fall wird uns dieses Thema weiterhin beschäftigen. Wenn ich mit Sprachen arbeiten möchte, die vielleicht weniger naheliegend sind, wie mit syrischem Arabisch oder unterschiedlichen afghanischen Sprachen, dann müssen wir sicher darüber nachdenken, ein Dispositiv einzuführen, das spontane Begegnungen zwischen Leuten ermöglicht, die für die Rezeption im Deutschen zuständig sind und beispielsweise Menschen aus Afghanistan, damit sie Tandems bilden, um so den Neumarkt zu einem echten Ort des Austauschs und der Begegnung zumachen. Und zwar ausgehend von diesen Sprachen, die weniger wahrgenommen werden und weniger bekannt sind, die aber die Schweiz ausmachen.
Was ist dir in deiner ersten Spielzeit in Zürich am wichtigsten?
Ich denke, der große Unterschied zum Poche ist, dass wir hier einen Ort haben, der wirklich über ein Ensemble verfügt. Mein Hauptanliegen ist es, das Ensemble wieder in den Mittelpunkt des Theaters zu stellen. Das Ensemble wird das Aushängeschild der Identität des Theaters sein, womit auch vermieden werden kann, dass sich wieder alles zu stark auf meine Person konzentriert. Denn das Aushängeschild des Poche war ich. Hier wird das Ensemble das Aushängeschild sein, aber ein vielgestaltiges Aushängeschild mit vielen unterschiedlichen Gesichtern. Das Ensemble wird das Publikum in das Theater holen, und das wird es mir ermöglichen, thematisch und auch in Bezug auf die Texte und die Stoffe, die wir auf die Bühne bringen, viel freier zu sein.
Ich könnte dir jetzt natürlich eine Liste von Leuten aufzählen, die ich gerne zeigen würde, aber das würde dem partizipativen und demokratischen Spielplan widersprechen, den ich versprochen habe. Natürlich musste ich bei meiner Bewerbung einen hypothetischen Spielplan vorschlagen, aber ich hoffe, dass er nicht umgesetzt wird. Auch wenn es Dinge gibt, die mir sehr wichtig sind, und Beteiligungen und Partnerschaften und Menschen, mit denen ich gerne zusammenarbeiten würde. Wahrscheinlich wird die Spielzeit, die am meisten mit mir zu tun hat, zwangsläufig die erste sein, weil da noch nicht alle Komitees eingerichtet sein werden. Aber ich will, dass bereits in dieser ersten Spielzeit soviel Beteiligung wie möglich stattfindet.
Ursprünglich bist du ja nicht nur Theaterintendant und Übersetzer, sondern auch Regisseur und Autor. Wirst du noch schreiben?
Nein, ich glaube nicht. Immer noch nicht, so wie ich es auch in den letzten zehn Jahren nicht gemacht habe. Das ist im Moment unmöglich, vor allem in den nächsten zwei oder drei Jahren. Das hätte ich vorgehabt, wenn ich die Stelle am Neumarkt nicht bekommen hätte, dann wäre ich wieder Theaterautor geworden. Vielleicht später, wir werden sehen.
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Ausgebildet an der Universität der Künste Berlin, künstlerischer Leiter und Regisseur der Kompanie MuFuThe, Autor in Residenz am GRÜ/ Transthéâtre und später an der Comédie de Genève, Tänzer unter der Leitung von Cindy Van Acker und Foofwa D’Imobilité oder auch Autor von bei Actes Sud-Papier veröffentlichten Stücken und Übersetzer – Mathieu Bertholet verbindet die unterschiedlichsten Praktiken und entwickelt daraus eine einzigartige, interdisziplinäre Ausdrucksform. Er wurde 2015 zum Direktor des POCHE /GVE ernannt und war außerdem Mitinitiator des Masterstudiengangs für Regie an der La Manufacture in Lausanne, Mitverantwortlicher der Abteilung Écriture Dramatique an der ENSATT in Lyon und Dozent an der belgischen Universität Leuven.
2021 gewann Mathieu Bertolet einen Schweizer Preis für darstellende Künste für seine Arbeit als Vermittler zwischen Sprachen und Formen, zwischen Texten und Zuschauerinnen. Ab September 2025 wird er als erster Westschweizer ein Theater in der Deutschschweiz leiten: Als Intendant des NEUmarkt in Zürich wird er weiterhin künstlerische und sprachliche Grenzen überwinden.
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