Seit 1999 erscheinen in der Reihe SCÈNE französische und frankophone Theatertexte in deutscher Übersetzung. Bei der künstlerischen Auswahl der Stücke war es stets unser Anliegen, einem deutschsprachigen Publikum vorzustellen, wie Autorinnen und Autoren andernorts auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse reagieren. Dies machte unsere Auswahl oft politisch und spiegelte Debatten wider, die zum Zeitpunkt des Erscheinens unserer Anthologie virulent waren.
SCÈNE 22 ist ein Sonderfall. Nach Abschluss der Textauswahl wurden wir alle, Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer und auch wir als Herausgeber, von der globalen COVID19-Pandemie überrollt, und das krisenhafte Weltgeschehen nahm stellenweise dystopischere Züge an als die pessimistischsten unserer Stücke.
Ironischerweise hatten wir für diese 22. Ausgabe von SCÈNE acht Texte ausgewählt, die sich mit unterschiedlichen Formen von Krisen und Möglichkeiten ihrer Bewältigung beschäftigten. Gemeinsam ist allen Arbeiten, dass sie das aktuelle Weltgeschehen – die drohende Klimakatastrophe, die Migrationskrise und die unbewältigten Nachwirkungen des Kolonialismus – als eine gefährliche Sackgasse erleben. Während einige von ihnen messerscharf aber letztendlich fatalistisch die Missstände und die Unmenschlichkeit des Spätkapitalismus analysieren und abbilden, suchen andere nach Auswegen oder neuen Organisationsformen, die letztendlich ein anderes Leben ermöglichen sollen. Angeregt von Bewegungen wie Fridays for Future scheint es besonders die junge Generation zu sein, die erfolgreich nach Alternativen zu dem scheiternden System sucht, das ihnen die Älteren hinterlassen.
Wir hatten die Textauswahl für diesen Band im Februar 2020 festgelegt. Die Arbeit an den Übersetzungen geschah zur Zeit des Lockdowns über Landesgrenzen hinweg, die nun plötzlich wieder unüberwindbar trennend geworden waren. Während überall Gewissheiten zerbrachen und eine hygienisch-verträgliche Zukunft der Kunstform Theater in den Sternen stand. Erfreulicherweise stellten wir fest, dass alle acht Texte auch in der «Nach-Corona-Welt» immer noch Gültigkeit besitzen. Diese Stücke aus der «Welt davor» haben uns auch heute noch eine Menge zu sagen. Manche Stelle hat durch den neuen Kontext sogar an Schärfe und Aktualität gewonnen. Wenn in «Und alles» Chalipa davon phantasiert, dass bald alle Menschen «OP-Masken» tragen müssen und die Hauptfigur in «Stacheldraht» Desinfektionslösung gegen ihre Probleme trinken möchte, wirken die Texte geradezu prophetisch. Und wenn Olivier Choinière im Finale von «Manifest des Jungen Mädchens» von der zwischenmenschlichen Komponente des Theaters schwärmt – «Das Theater findet seine Daseinsberechtigung bei euch, den Zuschauern, die an die Kraft der direkten Verbindung glauben» – , so kann man nur wünschen, dass all diese Texte bald (wieder) in weitgeöffneten, gut besuchten Theaterräumen gespielt werden.